Wohin geht für die Medizintechnik die Reise?

Medizintechnik 10. 05. 2014

Von Prof. Dr. Volker Bucher, Hochschule Furtwangen (HFU) sowie Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut (NMI) in Reutlingen

Die moderne Medizintechnik erfordert aufgrund der steigenden Lebenserwartung und zur Begrenzung der entstehenden Kosten für das Gesundheitswesen einen deutlichen Innovationsschub. Dabei wird der Miniaturisierung und der Ausstattung mit elektronischen Funktionen erhebliche Aufmerksamkeit geschenkt. Zur Bewältigung der notwendigen Entwicklungen ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Fachleuten der Medizintechnik und den unterschiedlichen technischen Fachrichtungen – von der Werkstoffentwicklung, Werkstoffbearbeitung, Konstruktion bis hin zur Fertigungstechnik oder Oberflächentechnik – notwendig. Diese Aufgaben können beispielsweise durch eine neu ausgerichtete Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen angegangen werden. Dies ist insbesondere deshalb sinnvoll, weil dadurch die benötigten hochqualifizierten Fachleute herangebildet werden.

Creating a Path for Developments in Medical Technology

Our increasing longevity and financial pressures on the health sector are two major drivers for advances in medical technology. As part of this, miniaturisation and the incorporation of electronic functionality are significant elements. The advances being called for can only be met by interdisciplinary collaboration of specialists from the various branches of medicine and the different technologies involved. The latter will include specialists in development of new materials and their processing as well as methods of manufacturing and surface engineering. Such a demanding collaboration can, for example, be achieved by bringing together academic institutions, research institutes and businesses. Such a cooperation is also important in that it provides a pathway for training highly-qualified specialists in these fields.

Ausgangslage und Bedarf

Aufgrund der demographischen Entwicklung und des wachsenden Wohlstandes – verbunden mit den Begleiterscheinungen Fehlernährung und mangelnde Bewegung – werden die Prävalenzen chronischer Erkrankungen weiter zunehmen und das Gesundheitssystem und die Gesellschaft noch stärker als bisher belasten. Dabei werden Innovationssprünge in der Medizintechnik­ unverzichtbar sein, um über die Erhaltung der selbstständigen Lebensführung der Patienten sowie durch eine optimale Therapiebegleitung und eine Verbesserung der Therapietreue die Behandlungs- und Lebensqualität zu steigern.

Die erforderlichen Innovationssprünge können zum Beispiel durch moderne aktive Implantate – auch intelligente Implantate genannt – erreicht werden (Abb. 1). Solche Implantate müssen beispielsweise Kontakt zur physiologischen Umgebung halten und Elektronik zur Signalverarbeitung und drahtlosen Datenübermittlung beinhalten.

Abb. 1: Intelligentes Implantat zur Ableitung von EEG-Signalen für die Epilepsiediagnostik unter der Schädeldecke; die Ableitkontakte sind die schwarzen kreisförmigen Elektroden rechts im Bild; links ist die aufgelötete Elektronik sichtbar (BMBF-Verbundprojekt INCRIMP, FKZ: 16SV5979K)

Eine Antwort auf diesen Bedarf an Innovationssprüngen ist die Kooperation zwischen der HFU, Hochschule Furtwangen University, und dem Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut an der Universität Tübingen in Reutlingen (NMI).

Kooperation zwischen Hochschule und Institut

Zwischen der HFU und dem NMI besteht ein Kooperationsvertrag. Das NMI ist eine Stiftung bürgerlichen Rechts mit den Kern­arbeitsgebieten Pharma- und Biotechnologie, Biomedizintechnik sowie Oberflächen- und Grenzflächentechnologie. Es ist Mitglied der Innovationsallianz Baden-Württemberg. Durch den Kooperationsvertrag erhält die Zusammenarbeit von HFU und dem außeruniversitären Forschungsinstitut in den Themenfeldern Lebens- und Materialwissenschaften eine neue Grundlage. HFU und NMI versprechen sich aufgrund der inhaltlichen Nähe im Bereich Lebens- und Materialwissenschaften Synergie­effekte für ihre Arbeit in Forschung und Lehre.

Die gezielte Bündelung der wissenschaftlichen Kompetenzen bietet ein attraktives Potenzial sowohl für die angewandte­ Forschung als auch für die Förderung der Ausbildung von Studenten für die Medi­zintechnik­industrie. Mit dem Kooperationsvertrag schaffen die Partner einen verbindlichen Rahmen für die Durchführung von gemeinsamen Forschungsvorhaben, die gemeinsame Nutzung von wissenschaftlichen Geräten sowie den Ausbau der Angebote für Studierende über Studienarbeiten, praktische Studiensemester oder Praktika.

Ein erstes Ergebnis der engen Kooperation­ ist die Berufung von Dr. Volker Bucher im Jahr 2011 auf eine Shared Professorship. So arbeitet Prof. Dr. Bucher sowohl an der Hochschule Furtwangen als auch am NMI – dort als Leiter der Arbeitsgruppe Mikromedizin- und Oberflächentechnik. Sein Fachgebiet, das er in die Lehre einbringt, sind Maßgeschneiderte Oberflächen und Materialien für Medizinprodukte. Am Hochschulcampus Schwenningen übernimmt er in der Fakultät Mechanical and Medical Engineering (MME) Lehrveranstaltungen zu Oberflächentechnologien, innovativen Werkstoffen und intelligenten Implantaten.­ Dieses Kooperationsmodell schafft eine enge Verzahnung von Fachkräfteausbildung und angewandter Forschung für die Medizintechnikindustrie. Somit profitieren die Studierenden vom Einblick in die aktuelle Forschungspraxis.

Aus der Kooperation ist auch der Arbeitskreis Expert Table Oberflächentechnologien für die Medizintechnik der IHK-Clusterorganisation Medical Mountains AG in Tuttlingen entstanden (www.medicalmountains.de/veranstaltungen/expert-tables/oberflaechentechnologien).

Über die bestehende Kooperationsvereinbarung können beispielsweise die exzellenten und umfangreichen Laboreinrichtungen des NMI genutzt werden. Hierzu gehören zwei Dünnschichttechnik-Reinräume mit PVD-, PECVD-Beschichtungsanlagen, Nass­chemie, Mikrogalvanik und optischer Litho­graphie sowie eine Polyimidfertigung und sehr umfangreiche Möglichkeiten der Grenzflächen- und Mikrostrukturanalytik.

Medizintechnik an der HFU

Die Fakultät Mechanical and Medical Engineering (MME) bietet zusammen mit der benachbarten Fakultät Medical and Life Sciences (MLS) fünf Studiengänge mit dem Abschluss Bachelor of Science, eine Duale Ausbildung (Studium Plus) sowie zwei Masterstudiengänge an. Einerseits beschäftigen sich die Fakultäten mit Aufgaben aus den klassischen Bereichen Maschinenbau und Mechatronik (MM), Medizintechnik (MEB) und Bioprozesstechnik (BPT). Andererseits öffnen sie sich mit International Engineering (IEB) und Molekularer und Technischer Medizin (MTZ) neuen Berufsfeldern. Diese tragen der unverzichtbaren Internationalisierung und den steigenden Ansprüchen einer älter werdenden Gesellschaft Rechnung und bieten in Kombination mit den klassischen Bereichen den Studierenden vielfältige Möglichkeiten, ihre ganz persönlichen, individuellen Profile zu konzipieren.

Mit aktuell über 1500 Studierenden gehören den beiden Fakultäten mehr als 25 Prozent der insgesamt rund 5800 Studierenden der Hochschule Furtwangen University an.

Neuer Studiengang Mikromedizin

Im Rahmen der Ausweitung der Masterstudiengänge wird ab dem Wintersemester 2014/15 unter Leitung von Prof. Bucher der neue Masterstudiengang Mikromedizin starten. Er ist die Antwort auf die zunehmende Entwicklung der Fortschrittsdimensionen Miniaturisierung, Computerisierung und Biologisierung in der Medizintechnik. Der Studiengang entspricht damit genau den langfristigen Trends in der Medizintechnik: Der Grad der Miniaturisierung nimmt ständig zu, es ist immer mehr Elektronik enthalten und es werden stetig mehr Fertigungsverfahren verwendet, die aus der Mikroelektronik stammen. Implantat­oberflächen werden durch neue Beschichtungsverfahren hinsichtlich Biokompatibilität und Biostabilität an die biologische Umgebung immer intelligenter angepasst. All diese für die Medizintechnik wichtigen Themenfelder der Mikromedizin werden in diesem Masterstudiengang behandelt. Laut Expertenmeinung [1–4] besteht hierfür jetzt schon Bedarf an qualifizierten Fachkräften, der in Zukunft noch deutlich wachsen wird.

Über bestehende Kooperationen mit Universitäten und im Kontext aktueller Forschungsaktivitäten der Hochschule Furtwangen haben die Studierenden damit die Möglichkeit, innerhalb des Masterstudiengangs und optional über eine anschließende Promotion Themen zu bearbeiten, die Antworten auf die aktuellen globalen Herausforderungen geben und auch dem Bedarfsfeld Gesundheit/Ernährung der Hightech-Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung entsprechen. Die multidisziplinäre Ausrichtung des Studiengangs ermöglicht ein vielseitiges Verständnis von innovativen Technologien sowie von neuesten Methoden und Produkten der Mikromedizintechnik. Die hierfür erforderlichen soliden Kenntnisse des technischen und medizinischen Hintergrundes sind ebenso Gegenstand des Studiengangs.

Im Studium Mikromedizin werden Wissen und vertiefte Kenntnisse über Mikrotechno­logie, Biomedizin und biokompatible Werkstoffe vermittelt (Module sind z. B.: Mikrotechnologie, Einführung in die Biomedizin, Advanced Medical Technologies, Telemedizin). Darüber hinaus erwerben die Studierenden Kenntnisse in den Bereichen Neurophysiologie und medizinische Modellbildung. Sie lernen verschiedene Verfahren und Methoden zur Entwicklung von mikromedizinischen Komponenten kennen. Als Beispiele, die aufgrund solcher Ansätze für Entwicklungsarbeiten entstanden sind, gelten ein Retinaimplantat (Abb. 2), das heute schon Blinden das künstliche Sehen ermöglicht, oder ein Gehirnimplantat, mit dem drahtlos EEG-Signale unter dem Schädelknochen nach außen gesendet werden sollen (Epilepsiediagnostik).

Abb. 2: Produkte der Mikromedizin sind ein Retinaimplantat (schematisch, links) oder ein Gehirnimplantat, als Prototyp in den Händen des NMI-Wissenschaftlers (rechts) 

Innovative Medizintechnik am NMI

Innovative Medizintechnik ist in hohem Maß das Ergebnis von interdisziplinärer Kooperation und Wissenstransfer zwischen Wissenschaftlern, Ingenieuren, Unternehmern und Ärzten. Die fächerübergreifende­ Kompetenz am NMI in der Entwicklung von medizintechnischen Produkten mit Biokomponenten, aktiven Implantaten (Abb. 3) und Diagnostikverfahren, in der Fertigung und Prüfung von Instrumenten sowie das Wissen über regulatorische Anforderungen in der Medizintechnik sind Basisvoraussetzung für viele Dienstleistungsaufträge und Forschungsprojekte. Im Bereich Medizintechnik arbeitet das NMI mit Partnern der nachfolgend genannten Gebiete.

Abb. 3: Am NMI werden flexible Mikroelektroden-Arrays gefertigt, mit denen zum Beispiel an neuronalem Gewebe extrazelluläre Signale abgeleitet werden können; rechts ist das Elektrodenfeld zu erkennen 

Werkstoffe und Oberflächen

Die steigenden Anforderungen bei der Entwicklung und Zulassung von innovativer Medizintechnik stellen insbesondere für kleinere Unternehmen eine große Herausforderung dar. Hier leistet das NMI wichtige Unterstützung. Mit seiner Kompetenz in der Werkstoffentwicklung und -prüfung, der Oberflächen- und Materialanalytik sowie Füge- und Beschichtungstechnik und seiner Kenntnis der regulatorischen Anforderungen und akkreditierten Methoden bietet das Institut wertvolle Hilfestellung auf dem Weg zur Zulassung.

Klebtechnik und -systeme

Kanülen, Endoskope, Implantate – bei vielen Medizintechnikprodukten gewinnt das Kleben als Fügetechnik zunehmend an Bedeutung. Es ermöglicht innovative, kostengünstige Produktionslösungen. Das NMI verfügt über Erfahrungen und Methoden zur systematischen Auswahl von Klebstoffen, zur Vorbehandlung von Oberflächen und zur Handhabung von Klebstoffen (Abb. 4). Mit verschiedenen Techniken werden Klebstoffe und Klebverbunde mechanisch charakterisiert und die Beständigkeit von Klebverbunden gegen schädigende Medieneinflüsse geprüft.

Abb. 4: Das Kleben gewinnt in der Medizintechik bei vielen Produkten als Fügetechnik zunehmend an Bedeutung

Maßgeschneiderte Oberflächen

Lochfraß, Spannungsrisskorrosion, Delamination – in hochsensiblen Bereichen wie der Medizintechnik darf es zu solchen Schäden nicht kommen. Die Qualitätsanforderungen an die eingesetzten Materialien sind dementsprechend hoch. Durch Anpassung der Oberflächen soll eine Kostenersparnis bei gleichzeitig deutlicher Qualitätssteigerung erreicht werden. Die Einhaltung von Standards ist dabei ebenso ein Ziel wie ein Mehr an Produktsicherheit. Mit Plasmabeschichtungen können die Haft-, Gleit- und Benetzungseigenschaften, die Korrosions- und Verschleißfestigkeit sowie die Biokompatibilität von Werkstoffoberflächen für viele Produkte eingestellt werden. Spezielle Schichtsysteme und Herstellungsverfahren gewährleisten haftfeste Isolationsschichten mit sehr guten Barriereeigenschaften für Wasser, Ionen und Gase.

Das NMI ist Partner in Projekten, bei denen zum Beispiel diamantähnliche Beschichtungen gezielt funktionalisiert werden sollen, um Oberflächen von chirurgischen Instrumenten und Haltevorrichtungen mit hoher Verschleißfestigkeit, sicherer Reinigbarkeit und mit antibakterieller Wirksamkeit zu erhalten. Bei der Einstellung der Oberflächeneigenschaften setzt das NMI auf eine ganzheitliche Strategie. Zum einen sind die Passivierungs- und Beschichtungsverfahren selbst im Blickfeld. Sie werden mit Hilfe von dünnschichttechnischen und grenzflächenanalytischen Verfahren optimiert und charakterisiert. Zum anderen werden die einzelnen Herstellungsschritte hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Funktion des Endprodukts untersucht und bewertet.

Moderne Analysemethoden zur
Charakterisierung von Medizinprodukten

Die Oberflächenanalytik, das heißt die immer präzisere Kontrolle von physikalisch-chemischen Eigenschaften und die Strukturierung auf immer kleinerer Skala, ist ein unverzichtbares Hilfsmittel für die Forschung und Entwicklung, für die Prozesskontrolle und Qualitätssicherung sowie zur Klärung von Schadensfällen. Das NMI verfügt über ein modernstes Instrumentarium, um Oberflächenprozesse und Strukturen bis zu atomaren Dimensionen aufzuklären.

Dienstleistung für Kunden

Für die oft mittelständischen Kunden bietet das NMI den Bedürfnissen angepasste­ Dienstleistungspakete an. Diese reichen zum Beispiel von kleineren Analytikaufträgen über mittlere und umfangreichere Aufträge bis hin zu geförderten Firmenverbundprojekten.

Schichtentwicklungen werden meist in Begleitung umfangreicher Validierungen angeboten. So bekommt der Kunde Sicherheit in der Produktentwicklung. Über die Kooperation mit der Hochschule Furtwangen besteht auch die Möglichkeit, Bachelor- oder Masterarbeiten als Ressource in ein Projekt mit einzubinden. Weiter fördert das Land Baden-Württemberg die Entwicklung neuer Produkte mit einem Innovationsgutschein: KMU können am NMI einen Auftrag bis 13 000 Euro platzieren und erhalten bei Bewilligung davon etwa 60 Prozent als Förderung zurück (https://www.innovationsgutscheine.de/). Das NMI unterstützt die Partner aus den kleinen und mittleren Unternehmen bei der Antragstellung.

Kontakt

Prof. Volker Bucher

Lieratur

[1] VDE-Positionspapier Theranostische Implantate; DGBMT-Fachausschuss Mikro- und Nanosysteme, VDE 2011

[2] Technische Recherche im Infrastrukturprojekt IMEX Implantierbare und extrakorporale modulare Mikrosystemplattform, VDE 2004

[3] VDE-Studie Innovationsbedingungen für Intelligente Implantate in Deutschland, VDE 2013

[4] Micromedicine at grid position; meditec February 2012, S. 24–26

DOI: 10.7395/2014/Bucher1

 

 

Relevante Unternehmen

Video(s) zum Thema

Werbepartner

Links zu diesem Artikel

Aus- und Weiterbildung

Top