Die Kirche im Dorf …

Verbände 03. 02. 2016
  • Autoren dieses Artikels
  • 1764x gelesen

Von Dr. Malte-Matthias Zimmer

Ziel einer regulativen Chemikalienpolitik soll zu allererst die Reduktion von vorhandenen Risiken für Mensch und Umwelt sein. Um die Wirksamkeit möglicher regulativer Maßnahmen beurteilen und unnötige Belastungen der Wirtschaft vermeiden zu können, muss das reale Risiko korrekt bemessen werden. Der vorliegende Artikel erklärt, warum in vielen praktischen Verwendungen von Gefahrstoffen das potentielle Risiko nicht zu messbarer Gefährdung (gesundheitliche Folgen) führt. Der Mangel an eindeutigen Daten­ und Ergebnissen führt zu unverhältnismäßigen Entscheidungen, die eher aus irrationalen ­Befürchtungen als aus nachvollziehbaren Fakten resultieren. Deshalb wird dafür plädiert, zunächst europaweit die jetzt bereits auf Basis etablierter Regularien erreichbaren technischen Standards (best available techniques) durchzusetzen, anstatt weitere restriktive Maßnahmen (wie z. B. Autorisierungen oder Restriktionen) für Verwendungen anzugehen. Bei Beschränkungen und/oder Verboten ist ein messbarer Mehrwert sehr unwahrscheinlich.

Niemand wird bestreiten, dass der Einsatz von und der Umgang mit Chemikalien immer der Vorsicht bedarf. Die Abwägung von Risiko und Nutzen ist notwendig und sollte durch eine allgemeingültige Regulierung eindeutig geregelt sein. Die wesentliche Herausforderung liegt darin, das Risiko für Mensch und Umwelt korrekt zu beschreiben. Wie hoch ist es im speziellen Fall wirklich?

Der übliche Ansatz ist, von den Eigenschaften des Stoffes auszugehen. Ist er beispielsweise kanzerogen, mutagen, reprotoxisch? Bisher werden diesbezüglich Tierversuche durchgeführt, die zu einer Abschätzung der schädlichen Mindestkonzentration oder -aufnahmedosis für den Menschen führen sollten. Hier beginnt jedoch das Dilemma. Erstens sind Tierversuche tunlichst zu vermeiden. Zweitens werden Tierversuche überwiegend bei Konzentrationen und Dosen durchgeführt, welche die reale Exposition zum Beispiel am Arbeitsplatz deutlich überschreiten. Dies ist oft notwendig, da die Wirkung sonst während der Dauer des Versuchstierlebens nicht beobachtbar wäre. Häufig werden die Ergebnisse aus hohen Dosiswirkungen zu niedrigeren Dosen extrapoliert. Es stellt sich aber die Frage, ob die Wirkung bei deutlich geringerer Dosis tatsächlich eingetreten wäre. Naiver Weise besteht die Vorstellung, dass sich beispielsweise bei inhalativer Einwirkung eine – möglicherweise unsichtbare – Wolke der Substanz in der Umgebungsluft entwickelt, die dann über längere Zeit ihre schädliche Wirkung zeigt. Doch gelten bei sehr niedrigen Konzentrationen in der Luft noch die gleichen Zusammenhänge? Dies wird gern bejaht. Andererseits können sich völlig andere Zusammenhänge in den Vordergrund schieben.

Ein Beispiel wäre das Vorhandensein eines geringen Puffersystems, das die schädliche Wirkung im betroffenen Organismus abfängt. Bei niedrigen Expositionen wäre daher keine Wirkung feststellbar, während in hohen Dosen die Kapazität eines solchen Systems unter Umständen schnell erschöpft wäre. Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei [1]. Diese Erkenntnis stammt bereits aus dem Jahre 1538, wird aber des Öfteren vergessen. Alternativ zu den Tierversuchen durchgeführte epidemiologische Studien beziehen sich häufig auf diese geringen Expositionen. Es ist häufig keine eindeutige Wirkung feststellbar. Ohne entsprechende Wirkung ist jedoch das Risiko kaum zu benennen.

Ein zweites Beispiel für unvermutete Gegebenheiten ist die oben vorgestellte naive­ Vorstellung einer Schadstoffwolke. Hier stellen sich Fragen wie: Ist dieses Bild eigentlich zutreffend? Oder: Ist eine gleichverteilte, dauerhaft existente Wolke mit schädlichen Wirkungen tatsächlich plausibel? Aktuell sind zwei Substanzen der Oberflächentechnik im Fokus der REACh-Regulierung: Chromtrioxid und Borsäure. Für beide sind Akzeptanzwerte in der Diskussion beziehungsweise reale Messwerte vorhanden. Im Folgenden soll nachvollziehbar gemacht werden, was die diskutierten Werte tatsächlich real für das Bild einer Schadstoffwolke bedeuten.

Borsäure wird in der Oberflächentechnik in Konzentrationen von üblicherweise 20 g/l bis 50 g/l eingesetzt. Laut DGUV beträgt das 95-%-Perzentil der vorhandenen offiziellen Messungen durch die Berufsgenossenschaften 0,022 mg/m³ – das heißt 95 % der gemessenen Werte lagen unter dieser Grenze. Dies kann für die weiteren Betrachtungen als ein oberer Wert angenommen werden. Unter der Annahme, eine Produktionshalle hätte ein Volumen von 15 000 m³ (entspricht mit 50 m x 20 m x 15 m einer recht großen Halle), ist die Gesamtmenge in dieser Halle zu

0,022 mg/m³ x 15 000 m³ = 330 mg

zu berechnen. Bei einer Konzentration von 50 g/l entspricht dies einem Elektrolytvolumen von

0,33 g / 50 g/l = 0,0066 l = 6,6 ml.

In der großen Halle befinden sich also 6,6 ml Elektrolyt, der die Schadstoffwolke bildet. Pro Kubikmeter ist dann jeweils ein Tröpfchen von 0,4 µl vorhanden. Zum Vergleich: Ein typischer Wassertropfen hat 1 ml bis 2 ml Volumen, ist also größenordnungsmäßig mehrtausendfach größer!

Reale Messwerte bei Mitgliedern des VECCO e. V. ergaben Expositionskonzentrationen von 0,0014 mg/m³ und 0,00019 mg/m³. In diesen Fällen sind die theoretischen Elektrolytmengen in der Luft (bei der angenommenen Hallengröße) mit 0,42 ml beziehungsweise 0,057 ml anzunehmen. Somit verbleiben pro Kubikmeter in der Halle noch 28 nl (nl = Nanoliter = Milliardstel Liter) beziehungsweise 3,8 nl Elektrolyt, um eine Wolke zu bilden.

Analoge Rechnungen für die Substanz Chromtrioxid können bekannte offizielle Ausgangswerte verwenden: erstens, den früheren offiziellen Grenzwert in Deutschland von 50 µg/m³; zweitens, den langjährigen Grenzwert der Berufsgenossenschaften zur Forderung betrieblicher Maßnahmen von 5 µg/m³ und den in der behördlichen Diskussion befindlichen Wert von 0,1 µg/m³ für ein Risiko von angeblich 4 : 10 000. In der Technologie des Hartverchromens werden Lösungen mit einem Gehalt im Bereich von 300 g/l Chromtrioxid eingesetzt. Die Berechnung des Elektrolytvolumens in der oben angenommenen Halle ergibt für die drei Fälle Volumina von 2,5 ml, 0,25 ml beziehungsweise 0,005 ml (= 5 µl). Pro Kubikmeter Halle sind dies 170 nl, 17 nl beziehungsweise 0,3 nl.

Wie muss man sich diese Wolken eigentlich vorstellen? Nebel sind es wohl nicht mehr. Wie zuverlässig, das heißt wiederholbar und robust, sind die Probennahmen in diesem Bereich?

Objektiv betrachtet wird plausibel, warum sich moderne Betriebsstätten kaum unterscheiden, wenn das beobachtbare Risiko zugrunde gelegt wird. Der Stand der Technik macht es möglich, dass der Betrieb von kubikmetergroßen, offenen Fertigungsapparaten maximal zum Entweichen von wenigen Millilitern führt (dies entspricht einem Faktor in der Größenordnung von mindestens 1 : 1 000 000), was die Frage nach der Effizienz beispielsweise von Absaugvorrichtungen eindeutig beantwortet­ und gleichzeitig plausibel macht, warum zwischen geschlossenen und offenen, modernen Anlagen kaum Unterschiede in den Expositionswirkungen festzustellen sind. Daher läuft das seit kurzem geforderte, zusätzliche Dokument zur Autorisierung Succinct summary of representative risk management measures (RMMs) and operational conditions (OCs) [3] leicht ins Leere. Es ist eben nicht zwingend ein eindeutiger Zusammenhang der Wirkung von Substanzen mit Risikominimierungsmaßnahmen und Organisationsbedingungen zu finden – zumindest nicht in sehr niedrigen Expositionsbereichen. Unterhalb einer Schwelle sind keine Wirkungen beobachtbar – unabhängig von der im Laufe der Zeit optimierten Apparatetypen.

Die vorgestellten einfachen Überlegungen verdeutlichen, auf welch hohem Niveau sich die heutigen Schutzvorkehrungen bewegen, sofern die Behörden Europas die existierenden Regularien konsequent durchsetzen. Bei der Borsäure beispielsweise ist die betriebliche Exposition um Größenordnungen bereits kleiner als die der Allgemeinbevölkerung. So beträgt gemäß dem REACh-Anhang-XV-Dokument [4] die durchschnittliche Aufnahmemenge nur durch Mineralwasser zwischen 0,025 und 0,145 mg/(Tag und kg Körpergewicht) an Bor; dies entspricht etwa 0,15 mg bis 0,87 mg Borsäure. Eine 50 kg schwere Person nimmt daher allein auf diesem Wege durchschnittlich 7,5 mg bis 43,5 mg Borsäure pro Tag auf. Bezogen auf das oben beschriebene 95-%-Perzentil von 0,022 mg/m³ müsste daher diese Person während der Arbeitszeit ein Volumen von 350 m3 bis 2000 m³ Luft veratmen, um eine gleiche Menge aufzunehmen. Laut einer Abschätzung der TU Braunschweig [5] veratmet ein Mensch in acht Stunden jedoch nur 4 m³, also rund 100- bis 500-mal weniger!

Die Abschätzungen sind einfach, basieren auf jedermann zugänglichen Informationen und bedürfen keiner höheren Mathematik. Auch ein aufwändiges Autorisierungs­verfahren oder eine umfangreiche Risiko-Management-Optionen-Analyse (RMOA) sind nicht nötig, um diese Zusammenhänge zu erkennen.

Daraus folgt zwingend, dass weitere Regulierungsmaßnahmen gut überlegt sein müssen: denn eine Verbesserung eines, aufgrund der geringen Werte nicht nachweisbaren Risikos in Betrieben, die die bisherigen Auflagen erfüllen, ist eher unwahrscheinlich. Negative Wirkungen auf Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit sind dagegen als sicher anzunehmen. Es empfiehlt sich daher, die Kirche im Dorf zu lassen.

Oft wird das Risiko aus unbestimmten Befürchtungen heraus zu hoch angenommen. Beispielsweise führt das Anhang-XV-Dokument nach REACh zu Borsäure an, dass epidemiologische Studien zwar keinen Hinweis auf reproduktionstoxische Auswirkungen zeigten, sie dennoch aber nicht auszuschließen seien [2]. Eine solche Annahme ist schwer erklärbar, außer mit einer grundsätzlichen diffusen Befürchtung, die eben nicht auf plausiblen oder gar wissenschaftlichen Daten basiert.

Wäre es nicht besser, zunächst in Europa Gleichheit der Bedingungen zu schaffen? Wäre nicht schon viel erreicht, wenn alle Betriebe die oben genannten Eigenschaften erfüllen würden?

Wenn die Höhe des angenommenen Risikos jedoch auf Vermutungen, Befürchtungen und Extrapolationen beruhen soll, die wissenschaftlich schwerlich begründbar sind, so bleibt nur eine sinnvolle Maßnahme übrig: Das komplette Verbot der Verwendung der Substanz! Nur dann sind Risiken durch diese Substanz sicher ausgeschlossen. Natürlich würde diese drastische Haltung die Frage aufwerfen, was dann noch verwendet werden dürfte, da kaum zu beantworten ist, welcher Stoff als risikolos eingestuft werden kann!

Ein klares Verbot hätte eine weitere Konsequenz: Es müsste jemand die Verantwortung übernehmen – auch für den Fall, dass Europa wirtschaftlich Schaden nimmt, ohne messbare Ergebnisse zu erzielen!

Die vorgestellten kurzen Überlegungen zeigen, dass vermutete oder potentielle Gefahren von Chemikalien nicht unbedingt zu real feststellbaren negativen Wirkungen führen müssen. Real vorhandene Expositionen werden leicht überschätzt, die Auswirkungen niedriger Dosen ebenfalls. Da massive Eingriffe in die Wirtschaft, wie der Zwang zur Substitution oder die extreme Verringerung der maximalen Expositionen, negative wirtschaftliche Folgen haben werden, muss sichergestellt sein, dass ein entsprechendes, positives und nachweisbares Ergebnis erreicht werden wird. Wie gezeigt, ist dies jedoch oft nicht möglich.

Entscheidungen haben auf klaren Informationen und Kenntnissen, nicht aber auf Vermutungen, unplausiblen Schätzungen, großzügigen Extrapolationen und naiven Vorstellungen zu basieren. Entsprechend müssen die notwendigen wissenschaftlichen Untersuchungen korrekt ausgelegt sein und nicht in weiten Extrapolationen münden, um über den nicht untersuchten Bereich zu spekulieren. Andernfalls könnte es sein, dass wir am Ende eine hohe Zeche zahlen, ohne einen ausreichenden Gegenwert bekommen zu haben. Doch wer hatte eigentlich bestellt?

Literatur

[1] Die dritte Defension wegen des Schreibens der neuen Rezepte; in: Septem Defensiones 1538. Werke Bd. 2, Darmstadt 1965, S. 510, (http://www.zeno.org/Philosophie/M/Paracelsus/Septem+Defensiones/Die+dritte+Defension+wegen+des+Schreibens+der+neuen+Rezepte)

[2] Annex XV Dossier – Proposal for the identification of a substance as a substance of very high concern because of its CMR properties, ECHA 02/2010

[3] Succinct summary of representative risk management measures (RMMs) and operational conditions (OCs), (https://echa.europa.eu/documents/10162/13552/afa_inst_format_succint_summary_rmm_oc_en.pdf)

[4] Annex XV dossier – Proposal For Identification Of A Substance As Substance Of Very High Concern (SVHC); ECHA 02/2010 9; Member State Committee – Draft Support Document For Identification Of Boric Acid As A Substance Of Very High Concern Because Of Its CMR Properties, ECHA Member State, 09.06.2010, Kapitel 1.1.4.4

[5] https://www.tu-braunschweig.de/Medien-DB/ifdn-physik/atmungstoffwechsel.pdf

Relevante Unternehmen

Video(s) zum Thema

Werbepartner

Links zu diesem Artikel

Aus- und Weiterbildung

Top