Neues aus Brüssel: risk-risk-trade-offs

Oberflächen 05. 04. 2017
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Von Dr. Malte Zimmer, Memmingen

Brüssel beschäftigt sich nach wie vor in vielen seiner administrativen Einrichtungen mit Risikoabschätzungen. Manchmal gemeinsam, manchmal parallel und manchmal auch nicht besonders gut abgestimmt. So ringt man jeweils um die richtige Einordnung der Größe eines eventuellen Risikos und die passenden Maßnahmen. Häufig beobachtet man dabei einen Hang zur Vereinfachung der Zusammenhänge und der Beschränkung auf ­seinen Zuständigkeitsbereich.

So gestaltet sich ein neu aufkeimender Blickwinkel auch besonders schwierig: Die risk-risk-trade-offs! Frei übersetzt sind ­risk-risk-trade-offs im vorliegenden Zusammenhang unerwartete Nebenwirkungen von risikomindernden, regulativen Maßnahmen – sie können auch als Zielkonflikte bezeichnet werden.

Kürzlich traf sich in Brüssel ein illustrer Kreis aus Politik, Behörden und Industrie, um dieses Thema genauer zu beleuchten. Das Treffen fand unter Chatham-house-rules-Bedingungen statt, um einen vertraulichen, unbehinderten Austausch von Informationen und Meinungen zu gewährleisten. Es wurde offenkundig, dass die europäischen Institutionen noch immer um einen einheitlichen, objektiven und wissenschaftlich abgesicherten Umgang mit Risiken durch Substanzen mit negativen Eigenschaften kämpfen. Es wird erwartet, dass aus der Forschung klare Beurteilungs- beziehungsweise Bewertungskriterien zu Höhe und Art des Risikos geliefert werden. In der Folge soll möglichst in Einzelfallbetrachtungen das Risiko minimiert werden können durch regulative Maßnahmen (Restriktionen, Autorisierungen, Grenzwerte u. v. m.). Substitution ist das bevorzugte Werkzeug.

Die Hoffnung der Politik auf einfache, eindeutige Vorgaben und Entscheidungs­hilfen allein aus der Wissenschaft wurde jedoch durch Berichte aus der Praxis sehr schnell als unrealistisch identifiziert.

Ein beeindruckendes Beispiel eines risk-­risk trade-offs bildete den Auftakt der Diskussionen; es handelte sich um den Rückblick auf eine Cholera-Epidemie im Jahre 1991 in Peru. Nach wie vor ist nicht klar, ob die Ursache die Verringerung oder gar Einstellung des vermeintlich gesundheitsschädlichen Chlorens, das zuvor siche­res Trinkwasser gewährleistet hatte, gewesen ist. Auch wenn dies durch Umweltverbände intensiv bezweifelt wird, können auch sie nicht verbergen, dass einfache, übereilte und einseitig beurteilte Maßnahmen leicht zu unüberschaubaren Wechselwirkungen im Gesamtsystem führen können [1–3]. Vor allem können weitere Risikofaktoren gefördert oder gar erst hervorgerufen werden. Genau dies wurde im Folgenden durch Vertreter der Oberflächenindustrie eindrucksvoll erläutert: Zunächst wurde klargestellt, dass das üblicherweise simplifizierende Bild der Wertschöpfungsketten der Industrie nicht der Realität entspricht. In der Regel ist es eben nicht eine geradlinige Kette aus Importeur, Händler, Verwender und Kunde wie Abbildung 1 zeigt. Vielmehr sind Wertschöpfungsketten üblicherweise in komplexe Marktsysteme integriert (Abb. 2).

Abb. 1: Theoretischer Verlauf der Wertschöpfungskette

Abb. 2: Realistische Verknüpfung von Unternehmen in der Wertschöpfung

 

In der Folge haben auch scheinbar einfache und einleuchtende Maßnahmen oft unvorhergesehene Folgen, vor allem eben auch auf das gesamte Risikoszenario. Anhand des Beispiels einer einfachen anorganischen Substanz, dem Chromtrioxid, lassen sich leicht fünf verschiedene Arten von risk-risk trade-offs oder auch Zielkonflikten durch Risikoübergänge identifi­zieren:

  • der direkte Risikoübergang
  • der indirekte Risikoübergang
  • der verschobene Risikoübergang
  • der aufsummierende Risikoübergang
  • der versteckte Risikoübergang

Der direkte Risikoübergang ist beispielsweise zu beachten, wenn von der Substitution der Verwendung von Chromtrioxid zur Hartverchromung durch Einsatz von galvanisch abgeschiedener Bronze gesprochen wird. Statt des Langzeitrisikos durch die kanzerogenen und mutagenen Eigenschaften des Chromtrioxids treten nun akute Risiken durch die Verwendung von Cyaniden auf. Viele Betriebe haben Cyanide ersetzt – unter anderem, weil ihr Verbleib kaum zu kontrollieren ist; vor allem aber, weil das akute Risiko nie sicher auszuschließen ist. Fehlbedienungen und ­Anlagenfehler sind niemals zu 100 Prozent zu verhindern.

Indirekte Risikoübergänge müssen bei der Substitutionsdiskussion von Chromtrioxid in der Galvanotechnik durch beispielsweise stromlos abscheidende Nickelverfahren Berücksichtigung finden. Das Risiko durch kanzerogene und mutagene Eigenschaften kann möglicherweise verringert werden (nicht beseitigt, denn Nickelverbindungen sind ebenfalls CMR-Stoffe). Jedoch wird das unbedenkliche Chrom durch das Allergen Nickel ersetzt, die Abwasserbehandlung wird durch die Verwendung von Komplexbildnern weit aufwändiger und schwieriger zu handhaben und möglicher Metallschrott am Ende des Bauteillebenszyklus ist nicht mehr unbedenklich.

Werden PVD-Verfahren zur Aufbringung von Chromschichten als Substitut für Chromtrioxid in der Galvanik betrachtet, so wird scheinbar das Risiko durch die Verwendung von Chromtrioxid beseitigt – allerdings sind hochreine Chrom-Targets notwendig, die ihrerseits im Herstellungsprozess grundsätzlich aus Chrom(VI)verbindungen hergestellt werden. Hier kann man also einen in der Lieferkette nach vorn geschobenen Risikoübergang feststellen.

Nach hinten in der Lieferkette wird der ­Risikoübergang geschoben, sobald bei der Fertigung von Komponenten leichtfertig Produktionsschritte substituiert werden. Haushaltsgeräte, Autos, Züge, Erdarbeitsmaschinen, Flugzeuge und viele andere komplexe Produkte weisen eine langjährige Optimierung auf, ihre Komponenten sind sorgsam abgestimmt und die Hersteller achten intensiv darauf, die Qualität nicht zu beeinträchtigen. Einfache und übereilte regulative Eingriffe können hier schnell durch Vermeidung des ursprünglich fokussierten Risikos andere Risiken der Wertschöpfungskette nach hinten verschieben beziehungsweise dort hervorrufen – mit unvorhersehbaren Folgen beispielsweise für die Sicherheit der Produktverwendung.

Ein weiteres Verschieben des Risikos ist möglich durch einfache Verlagerung des regulierten Fertigungsschritts in nicht oder weniger regulierte Teile der Welt. Es wird seitens Behörden und NGOs (nichtstaatliche Organisationen) oft bezweifelt, dass solch weniger kontrollierte Fertigungen im außereuropäischen Ausland zum Standard gehören. Jedoch lassen sich die Beweise dafür ganz offen auf Unternehmenswebseiten finden [4]. Offensichtlich stehen viele Regionen bereit, das bei uns vermiedene Risiko zu weit schlechteren Bedingungen zu übernehmen.

Der kumulative Risikoübergang tritt auto­matisch in Erscheinung, wenn man sich vor Augen hält, dass Technologien wie das Verchromen nicht durch eine einzelne Paralleltechnologie substituiert werden können. Vielmehr müsste die bisherige Fertigung auf verschiedene andere Fertigungsarten verteilt werden, womit sich deren Risiken je nach Verteilung und Produktionsmenge beliebig akkumulieren können: in einem Unternehmen, in mehreren oder an verschiedenen Standorten, um nur einige zu nennen.

Zu guter Letzt soll der versteckte Risiko­übergang nicht vergessen werden. Er resultiert daraus, dass die enormen formalbürokratischen Ansprüche der Behörden aus REACh und anderen Regularien zunehmend die Fachkräfte in den Unternehmen, vor allem in den zahlreichen KMUs, binden. Sie sind gefordert, um den fachfremden Mitgliedern der Regulierungs­behörden die technischen, wirtschaftlichen und risikobezogenen Zusammenhänge auseinanderzusetzen. Damit fehlt ihre Expertise zunehmend im täglichen operativen Geschäft. Die Folgen für den allgemeinen Arbeitsschutz, Umweltschutz, die Produktsicherheit, Anlagenpflege und vieles mehr sind unvorhersehbar.

Die gesamte Diskussion während des Meetings machte deutlich, dass Risikovermeidung oder -beseitigung nur unter Berücksichtigung von vielen möglichen Wechselwirkungen im komplexen Gefüge der industriellen Fertigung geschehen kann. Andernfalls wird schnell der Teufel durch den Beelzebub ausgetrieben.

Als wenig hilfreich für effektives und effizientes Risikomanagement wurde die bewusste Beschränkung der beauftragten Behörden auf ihren Zuständigkeitsbereich identifiziert. In komplexen Systemen kann sich niemand auf einen kleinen Teilbereich zurückziehen und Folgen auf anderen Sektoren ignorieren. Das wäre weder zielführend noch verantwortungsbewusst. Insbe­sondere sind die unterschiedlichen, oft mit gegensätzlicher Wirkung auftretenden Risi­ken, zum Beispiel am Arbeitsplatz, für den Endverbraucher, für die Umwelt, gegenseitig klar zu bewerten, um gegebenenfalls eine Schwerpunktauswahl treffen zu können. Die Erwartung eines Nullrisikos auf allen Gebieten wäre naiv und realitätsfern.

Die Betrachtung der komplexen Zusammenhänge erfordert andererseits eine breite Expertise. Es ist vielleicht zu viel verlangt, sie in den Behörden vorauszusetzen. Unbedingt gehört jedoch eine intensive Kommunikation mit den in den einzelnen Fällen Betroffenen dazu – und das sind in den komplexen Wirkzusammenhängen mehr als die meisten annehmen. Gene­relle public consultations wie in Brüssel üblich führen nur selten weiter. Die Welt ist eben nicht so einfach, wie manche sie sich wünschen – und sich manchmal auch machen.

Literatur

[1] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/16022685

[2] http://www.rachel.org/?q=en/node/6430

[3] https://chlorine.americanchemistry.com/Chlorine/Chlorine-Misinformation/

[4] http://www.generalelectroplating.com/
hardchrome_plating.aspx

 

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