Aktive implantierbare Knochendistraktoren

Medizintechnik 05. 11. 2018

- eine Herausforderung für Aktorik und Verkapselung  -  Teil 2

Von Florian Höschen, Andreas Dietz, Ulrich Mescheder und Volker Bucher, Hochschule Furtwangen,
Fakultät Mechanical and Medical Engineering

Im Rahmen einer Studienarbeit an der Hochschule Furtwangen wird ein umfangreicher Überblick zum Thema Aktive implantierbare Distraktoren gegeben. Ziel ist es dabei, Grundlagen für den Bau eines voll implantierbaren Kieferdistraktors zu betreiben. Zunächst wird der Begriff des Distraktors und dessen Einsatz geklärt. Im zweiten Teil des Beitrags werden an Hand der verfügbaren Patentunterlagen die Entwicklungen der vergangenen Jahre vorgestellt. Die Patente beschreiben teil- und vollimplantierbare Ausführungen. Enthalten sind sowohl Erläuterungen zu den Ausführungen, Einsatzmöglichkeiten und Testanwendungen als auch die möglichen Formen zur Erzeugung der mechanischen Kräfte und die daraus erzielbaren Veränderungen der Knochen. -

Active Implantable Distractors – Challenge for Actuator Engineering and Encapsulation

In the context of a student research project at the Hochschule Furtwangen, a comprehensive overview on the topic of active implantable distractors was written. The aim is to offer a basic summary of state of the art for the construction of a fully implantable jaw distractor. First, the concept of the distractor and its use are clarified. The second part covers the developments of the past years based on available patent documents. The patents describe partially and fully implantable designs. Included are both explanations to the designs, application possibilities and test applications as well as the possible forms for the generation of mechanical forces and resulting changes in the bones.

-Fortsetzung aus WOMag 10/2018

5 Vorhandene Forschungen zu ­intelligenten bzw. elektrischen
voll implantierbaren Distraktoren

In einem Überblick über die bereits vorhandene Forschung werden die Inhalte verschiedener Patente, Forschungsarbeiten, Veröffentlichungen und bereits vorhandene Artikel aufgezeigt.

5.1 Patent DE 10 2010 015 687 A1

Patent DE 10 2010 015 687 A1 beschreibt einen Distraktor, der mit Hilfe einer Antriebsmechanik (Abb. 10) bewegt wird, die im ­Sinne eines Elektromotors funktioniert. Die Art des Elektromotors und die Anzahl der darin ­befindlichen Magnete hat der Erfinder nicht explizit beschrieben [9].

Abb. 10: Antriebseinheit aus dem Patent DE 10 2010 015 687 A1 [9]

 

Das Ziel aller Mechanismen ist, durch eine elektromagnetische Ansteuerung ein Gewin­de zu betreiben, das die Distraktion durchführen soll. Der Motor des Distraktors soll laut Patent aus vier oder mehr Magneten aufgebaut sein. Von diesen Magneten besteht die obere Hälfte aus Elektromagneten und die andere Hälfte aus Permanentmagneten. Durch eine elektrische Ansteuerung der Elektromagnete werden nach dem Prinzip eines Elektromotors die Permanentmag­nete in Bewegung versetzt; diese sind auf der Führungsschiene befestigt. Durch die so erzeugte Drehbewegung werden Zahnräder betrieben, die wiederum eine in der Mitte angebrachten Stange in die gewünschte Richtung bewegen [9].

Wie in Abbildung 11 zu sehen ist, besteht die Hauptkomponente des Distraktors aus zwei Ankerplatten. Diese werden jeweils mit einem Teil des zu verschiebenden Knochens verbunden. Durch den oben beschriebenen Antriebsmechanismus wird eine der beiden Platten bewegt. Dies geschieht mit Hilfe einer Führungsstange, die oben mit einem Gewinde versehen ist. Die Führungsstange wird über das Gewinde vom Elektromotor angetrieben [9].

Abb. 11: Gesamtansicht Patent DE 10 2010 015 687 A1 [9]

 

Ein Nachteil dieses Patents ist, dass bei einer Kieferdistraktion ein Kabel aus dem Mund des Patienten herausgeführt werden muss, um den Elektromotor betreiben zu können [9]. So ist zwar keine Antriebsstange oder Stellschraube notwendig, es besteht jedoch weiterhin eine Öffnung durch die Haut nach außen.

Ein weiterer Aspekt des Patents ist, dass das Gerät nach der Distraktion nicht vollständig entfernt wird. Entfernt werden die Antriebseinheit und Teile der Anbauten. Die Führungsschiene kann verbleiben und als Stütze, zum Beispiel für einen Zahn, verwendet werden [9].

5.2 Distraktionsosteogenese mit voll implantierbarem System

Ein voll implantierter Distraktor wurde von der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und dem Institut für Biomedizinische Technik und Physik in Wien 1999 entwickelt. Es wurde eine ­Testreihe durchgeführt, bei dem der Distraktor drei Schafen eingesetzt wurde. Bei den Schafen wurde eine Distraktion von durchschnittlich 11,2 mm erreicht. Die Distraktion wurde dabei kontinuierlich durchgeführt. Sie betrug 0,04 mm/h, das entspricht etwa 1 mm pro Tag. Der Distraktor wurde fünf Tage nach der Transplantation in Betrieb genommen. Die aktive Distraktionszeit betrug 14 Tage.

Der Distraktor besteht aus zwei Komponenten. Zum einen gibt es die mechanische Komponente (Abb. 12) und zum anderen eine durch ein Silikonkabel verbundene Steuereinheit. Die Steuereinheit beinhaltet zudem die Batterien, die zur Distraktion benötigt werden.

Abb. 12: Distraktionsosteogenese mit einem voll implantierbaren System [10]

 

Aktiviert wird die Distraktion über einen Magnetschalter, der sich ebenfalls in der Steuer­elektronik befindet. Dieses Bauteil wurde bei der Studie im Halsbereich der Schafe implantiert. Weitere Veröffentlichungen oder andere Informationen zu dem vorgestellten Distraktor konnten nicht gefunden werden.

5.3 Patent EP 2 915 496 B1

Patent EP 2 915 496 B1 beschreibt einen voll implantierbaren Distraktor, der unter anderem im Kieferbereich eingesetzt werden kann. Konzipiert ist der Verlängerungsnagel so, dass er individuell einsetzbar ist, so zum Beispiel auch als Wirbelsäulendistraktor oder in langen Röhrenknochen. Angetrieben wird er mit einem elektrischen Motor, der in einer hermetisch abgeriegelten Kapsel verbaut ist. Über ein biokompatibles Übertragungssystem wird eine Distraktion bewerkstelligt.

Um den Elektromotor hermetisch abzugrenzen und trotzdem eine Distraktion durchführen zu können, funktioniert der Distraktor mit Hilfe von zwei Magnetrotoren. Der erste Magnetrotor wird durch den Elektromotor angetrieben. Er ist in der abgeschlossenen Kapsel verbaut. Der zweite Rotor ist in der Abbildung 13 in dem oben abgebildetem Bauteil (27) verbaut. Durch die magnetische Kopplung der beiden Rotoren bewegt sich der obere genauso wie der untere Magnet, der durch den Motor angetrieben wird (Abb. 14 und 15) [11].

Abb. 13: Kompletter Distraktor [11]

 

Abb. 14: Batterien (32), Motor (35), Magnetrotor (37) und hermetische Kapsel (20) [11]

 

Abb. 15: Motor (35), Magnetrotor (37), Radiallager (40) und planetarische Reduktion (45) [11]

 

Die Energie für den Elektromotor wird durch wiederaufladbare Batterien zugeführt. Ebenso ist es nach Ansicht der Erfinder denkbar, dass das System über elektrische oder magnetische Induktion angetrieben werden könne. Die hermetische Kapsel soll laut Patent aus Titan, PEEK oder einem anderen biokompatiblen Material bestehen. Dies gewährleistet, dass ein Kontakt zwischen den elektrischen Bauteilen und dem umgebenden Gewebe möglich ist.

Da bei der Distraktion hohe Kräfte aufgebracht werden müssen, ist der Magnetrotor, der nicht mit dem Elektromotor verbunden ist, an mehrere Übersetzungsgetriebe angeschlossen. Das System funktioniert über mehrere Planetenreduzierer und ein Übertragungssystem, das die Dreh- in eine Linear­bewegung übersetzt [11].

Die Schmierung des nicht elektrischen Teils des Distraktors wird durch Körperflüssig­keiten gewährleistet. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass alle Bauteile aus biokompatiblen Materialien gefertigt sind.

Der Distraktionsnagel ist so aufgebaut, dass eine Belastung während der Implantationszeit möglich ist. Dies bedeutet, dass schon während des Distraktionszyklus der entsprechende Körperteil bewegt und trainiert werden kann [11].

5.4 Patent EP 1 099 415 A1

Mehrere Ausführungen eines Distraktors sind in Patent EP 1 099 415 A1 vorgestellt. Diese sind alle so konstruiert, dass sie komplett implantiert werden können. Bei allen Implantaten werden als Antriebseinheiten verschiedene Möglichkeiten empfohlen. Aufgeführt wird ein Piezoelement, ein Elektro- oder ­Linearmotor oder auch ein Uhrwerkantrieb. Diese sollen eine kontinuierliche oder quasikontinuierliche Bewegung ermöglichen. Die Stromversorgung soll mittels ­implantierter Batterien erfolgen. Angesteuert werden die Aktoren durch einen Sender, der auf dem Distraktor angebracht ist. Dieser soll nicht nur die Distraktion steuern, sondern auch verschiedene Überwachungsmöglichkeiten bieten. Überprüft wird zum Beispiel das genaue Knochenwachstum, das über eine Computersoftware ausgelesen wird. Dadurch ist eine noch genauere Steuerung möglich [12].

Die Besonderheit an diesen Distraktoren ist, dass sie Bewegungen in mehrere Richtungen erlauben. In der einfachsten Ausführung beschreibt dies eine Kurvenbahn, die mechanisch festgelegt ist und die während der Distraktion nicht verändert werden kann. Laut des Patents sind aber auch Implantate denkbar, die mit Hilfe von zwei unabhängig voneinander arbeitenden Aktoren komplexere Bewegungen ausführen können und die ­individuell von außen angesteuert werden. Die Abbildungen 16 bis 19 zeigen die verti­kale und horizontale Bewegung der Distraktoren [12].

Laut Patent wäre es zudem denkbar, durch eine Antriebseinheit oder durch elektrische Felder eine Vibration auszuführen. Damit solle ein Knochenwachstum beschleunigt werden. Ebenso könne eine Pumpe integriert werden, die zum Knochenwachstum anregende Stoffe in den Körper induziert [12]. Angaben zu weiteren Forschungen oder Entwicklungen sowie über einen kommerziellen Einsatz des Distraktors sind nicht verfügbar.

Abb. 16: Vorderansicht eines vertikal zweifach gewickelten Distraktors [12]

 

Abb. 17: Gestreckte Ansicht dieses Distraktors [12]

 

Abb. 18: Vorderansicht eines horizontal zweifach gewickelten Distraktors [12]

 

Abb. 19: Draufsicht Distraktor in gestreckter Position [12]

 

5.5 Mechatronische ­Osteosyntheseplatte

Die mechatronische ­Osteosyntheseplatte wurde im Zeitraum von 1. November 1999 bis zum 30. April 2001 in der Fachhochschule Konstanz entwickelt. Ziel der Entwicklungen war ein voll implantierbarer Distraktor (Abb. 20) [13].

Abb. 20: Mechatronische Osteosyntheseplatte [13]

 

Abb. 21: Explosionszeichnung Mechatronische Osteosyntheseplatte [13]

 

Um eine Kraft von 30 N zu realisieren, wird die Osteosyntheseplatte mit einem Aktor aus Formgedächtnislegierungen betrieben. Die restlichen Materialien, die bei dem Bau verwendet wurden, sind biokompatibler Kunststoff, Titanlegierungen und in Silikon gekapselte Elektronik, die zur Beheizung der Nickel-Titan-Drähte verwendet wird. Zu der Elektronik gehören auch eine Sendespule und ein Sendegerät [13]. Alle Bauteile, die in dem Distraktor verbaut worden sind, sind aus Abbildung 21 ersichtlich.

Zur Aktivierung der Distraktion werden die Nickel-Titan-Drähte mit Strom versorgt. Über einen Ratschen-Mechanismus wird die Kraft von den Drähten auf eine ausfahrbare Platte übertragen. Dieser Mechanismus gewährleistet den Vorschub und verhindert ein Zurückrutschen. Um die Schubdrähte wieder auf ihre ursprüngliche Länge einzustellen, werden nach dem Vorschub die Rückstellfedern aktiviert.

Die Stromversorgung wird durch Induktion gewährleistet. Auf dem Distraktor sind hierfür Spulen aufgebracht, welche durch den Transmitter mit Strom versorgt werden. An der Control Unit wird über einen Kippschalter gewählt, ob der Vorschub- oder Nachstelldraht angesteuert werden soll (Abb. 22) [13].

Abb. 22: Stromversorgung mechatronische Osteosyntheseplatte [13]

 

Um zu verhindern, dass elektrische Bauteile mit dem Körper in Berührung kommen, sind verschiedene Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden. Die Formgedächtnisdrähte sind mit einer Polytetrafluorethylen-Schicht überzogen. Dem Patent zufolge sind die Teile Unterteil, Zunge, Klemme vorne, Klemme hinten, Sperre und Feder zusätzlich mit einer isolierenden, anodisch erzeugten Titanoxidschicht ganz oder teilweise bedeckt (Kepla-Coat®, AHC Oberflächentechnik, Kerpen). Die Bauteile Schiffchen und Oberteil bestehen aus dem biokompatiblem Kunststoff PEEK mit 30 % Glasfaseranteil [13]. Durch die aus PEEK gefertigten Bauteile besteht ein Schutz gegen Kurz- oder Körperschlüsse auch in den Bereichen, in denen die Titanoxidschicht eine nur unzureichende Isolation bietet. Dies ist vor allem bei Bohrlöchern und scharfen Kanten der Fall [13].

Nach der Implantation kann mit der Distraktion begonnen werden. Die einzelnen Dis­traktionsschritte können bis zu 0,45 mm betragen. Eine komplette Distraktion kann über eine Strecke von 15 mm erfolgen [13]. Die Mechatronische Osteosyntheseplatte wurde bei fünf Hunden implantiert. Bei dieser Versuchsreihe wurde festgellt, dass es nach fünf Tagen zu keiner messbaren Distraktion gekommen ist [13].

5.6 Fazit

Mögliche Ursache für die nicht zustande gekommene Distraktion kann eine falsch ausgelegte Kraftwirkung der Formgedächtnisdrähte sein. Zudem ist es möglich, dass das Induktionsfeld zu schwach ausgelegt worden ist, um den Draht genügend zu erhitzen. Dies kann zum Beispiel durch einen zu großen Abstand zwischen Sender und Empfänger passieren. Des Weiteren ist zu beachten, dass Hunde bei Verletzungen im Mundraum wesentlich mehr Speichel als gewöhnlich produzieren [14]. Dies könnte zu einer verstärkten Kühlung des Distraktors geführt haben.
wird fortgesetzt

Literatur

[9] Fuchs, Ernst, Thalwil, CH: Magnetisch beweglicher Distraktor für Osteognese; DE 10 2010 015 687 A1, DE A61B 17/66, Oct. 27, 2011

[10] O. Ploder et al.: Distraktionsosteogenese mit einem voll implantierbaren System. Experimentelle Studie; (ger), Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie: MKG, vol. 3, Suppl 1, S. 140-3,
http://download.springer.com/static/pdf/186/art%253A10.1007%252FPL00014502.pdf?originUrl=http%3A%2F%2Flink.springer.com%2Farticle%2F10.1007%2FPL00014502&token2=exp=1496824765~acl=%2Fstatic%2Fpdf%2F186%2Fart%25253A101007%25252FPL00014502.pdf%3ForiginUrl%3Dhttp%253A%252F%252Flink.springer.com%252Farticle%252F10.1007%252FPL00014502*~hmac=9b8be9522e69f5ab57bcdf612f8382df1a732d415d55056787333f00926a9415, 1999

[11] R. Brunner, C. Lachet: EP 2 915 496 B1, EU 14158156.1, Nov. 30, 2016

[12] U. Longerich, W. Janzen, M. Thurau: Knochendistraktor mit einer Stelleneinrichtung; EP 1 09 415 A1,
EU 99122429.6

[13] M. Butsch, M. Schnell: Mechatronische Osteosyntheseplatte: Schlussbericht; BMBF-Programm zur anwendungsorientierten Forschung und Entwicklung an Fachhochschulen (aFuE); Förderzeitraum: 01.11.1999-30.04.2001, Konstanz, Hannover

[14] Gesundheit: Warum speichelt mein Hund? (online) available: http://dogs-magazin.de/gesundheit/
diagnose/erhoehter-speichelfluss-warum-speichelt-mein-hund/, accessed on: Dec. 03, 2017

 

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