Auf die Oberfläche kommt es an – Biologisierung der Medizintechnik

Medizintechnik 07. 04. 2019

Was haben der Produktionsprozess, also Bearbeitungsverfahren wie Zerspanen, Drehen, Fräsen, oder auch additive Fertigungsverfahren mit der Medizintechnik zu tun? Sehr viel, denn sie verändern erheblich die Beschaffenheit der Materialoberfläche. Wenn diese Materialien in direkten Kontakt mit dem Körper kommen, zum Beispiel als Implantat, ist die Oberfläche entscheidend für das Einwachsverhalten und die Immunreaktion des Körpers.

Ein über das Land Baden-Württemberg und EFRE-gefördertes Forschungsprojekt am NMI, dem Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut an der Universität Tübingen in Reutlingen, beschäftigt sich genau mit diesem Thema. Es wird untersucht, ob und wie das Immunsystem bei Kontakt mit technischen Grenzflächen und Materialien in Implantaten, Schläuchen oder chirurgischen Instrumenten reagiert. Ziel des Projekts ist es, verlässliche Vorhersagen über die Verträglichkeit von verschiedenen Materialien ab­zuleiten.

Am Beispiel der Rauheit von Oberflächen kann dies gut veranschaulicht werden. Rauere Oberflächen können das Einwachsen von Implantaten begünstigen, aber auch die Entstehung eines Biofilms mit Bakterien und damit Entzündungen. Um den Einfluss der Topografie auf die Immunreaktion zu untersuchen, wurde eine Oberfläche aus dem gleichen Material mit graduierter Oberflächenrauheit produziert. Andere Untersuchungen befassten sich mit einer Oberfläche, die mit verschiedenen Prozessen, wie zum Beispiel Strahlen, Ätzen oder Polieren, verändert wurde. Die resultierende Immunreaktion wurde jeweils mit mehreren, im Projekt entwickelten Testsystemen untersucht, die auf human-­basierten Zellmodellen basieren.

Die Oberfläche eines Materials kann auch in ihrer Chemie komplett verändert werden. Das geschieht gewollt durch Beschichtungsprozesse, aber auch ungewollt beispiels­weise durch die Verwendung von Hilfs- und Betriebsstoffen, die sich irreversibel mit der Oberfläche verbinden, wodurch sich die Immunantwort des Körpers komplett ändern kann. Durch eine sehr dünne Beschichtung ist es möglich, die Topographie der Oberfläche beizubehalten und somit gezielt die chemischen Eigenschaften der Oberfläche zu ändern und zu untersuchen.

Auch Klebe- und Fügeprozesse verändern die Oberfläche und haben Einfluss auf die Reaktion des Körpers. Ein weiteres IGF-gefördertes Forschungsprojekt am NMI befasst sich mit der Biokompatibilität von Kleb­verbindungen nach bis zu tausendfacher Aufbereitung.

Neue Produktionsprozesse wie die additive Fertigung ermöglichen völlig neue Geo­­metrien und Oberflächenstrukturen, welche ebenfalls eine Änderung in der Immunantwort bewirken können. Näheres zum Thema Grenz­flächenanalytik zur Prozessentwicklung in der additiven Fertigung wird am 8. Mai 2019 auf der internationalen Fachmesse für Medizintechnik T4M in Stuttgart (15:00 Uhr bis 15:30 Uhr auf der STAGE PINK)präsentiert.

Durch das Verständnis der Korrelation zwischen Oberfläche und Biologie wird es möglich, Oberflächen maßzuschneidern, für verschiedene medizinische Anwendungen oder sogar individualisiert für bestimmte Personengruppen. Diese Projekte sind nur möglich, weil Wissenschaftler/innen verschiedener Fachrichtungen, wie Biochemie, Immunologie, Biologie, Chemie, Physik, Informatik und Maschinenbau, sich zusammen den Herausforderungen an biologisch-technischen Grenzflächen widmen.

 
 

Zelle (Neuron) auf einer Oberfläche

Text zum Titelbild: Mechanisch bearbeitete Edelstahloberfläche, wie sie beispielsweise bei medizinischen Instrumenten vorliegen kann

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