Von Industrie 4.0 zu Galvanik 4.1 - Ergebnisse aus Sicht des Anwenders

Oberflächen 06. 05. 2019

In der Artikelserie Von Industrie 4.0 zu Galvanik 4.1 (WOMag 11/2018 bis 4/2019) wurden die Ergebnisse eines ZIM-geförderten Projekts zur Entwicklung eines Werkzeugs für die Optimierung der Produktion in galvanotechnisch ausgerichteten Unternehmen vorgestellt. Darin haben die beteiligten Projektpartner intensiv über wissenschaftlich, technologischen Details des Projekts berichtet. Zum Abschluss der Serie stellt der Anwenders das Vorhaben aus seiner Sicht dar. Dazu hat die Redaktion der WOMag die Möglichkeit zu einem Gespräch mit dem Eigner Frank Benner und den leitenden Fachleuten der B+T Oberflächentechnik Edgar Kaufmann und Norbert Kaufmann am neuen Unternehmensstandort in Hüttenberg bei Wetzlar erhalten. Im Gespräch geben die Fachleute der B+T einen Einblick in die Motivation zur Teilnahme am Projekt sowie über die Herausforderungen und erreichten Ziele der Entwicklungsarbeiten.

Redaktion: Was waren die Gründe für Ihre Beteiligung an diese Forschungsvorhaben?

Frank Benner: Schon seit langer Zeit haben wir uns mit der Digitalisierung unseres Unternehmens auseinandergesetzt. Im Zuge der verschiedenen Managementsystemen (IATF 16949, 9001, 50001, 14001) betrachten und bewerten wir regelmäßig unsere Prozesse. Hierbei ist uns aufgefallen, dass wir noch reichlich weiße Flecken in unseren komplexen Fertigungssystemen haben. Diese sind historisch gewachsen und unter normalen finanziellen Anstrengungen nicht korrigierbar.

Redaktion: Was meinen Sie konkret?

Frank Benner: Dies betrifft zum Beispiel die Schwierigkeiten der Bewertung von Energieströmen. Historisch bedingt haben wir keine strukturierte Energieverteilung. Das bedeutet ein Gleichrichter der Anlage 1 ist am Stromzähler der Anlage 2 beziehungsweise 5 angeschlossen. Filterpumpen sind mit einem Stecker an der Gebäudeverteilung dauerhaft angeschlossen. Hier kamen wir mit der Differenzierung an unsere Grenzen. Getroffene energetische Korrekturmaßnahmen konnten nicht durch Ablesen von Messwerten eindeutig nachvollzogen oder bewertet werden. Die gleiche Herausforderung hatten wir auf der chemischen Seite. Klar, wir haben eine ausgereifte Analysetechnik und sehr eng gefahrene Prozesse, die Zusammenhänge im Hintergrund, bezogen auf die anstehenden Aufträge und die Kundentermine werden nicht berücksichtigt.

Redaktion: Welche war die entscheidende Herausforderung für Ihr Engagement am Forschungsvorhaben Galvanik 4.1?

Edgar Kaufmann: Die Oberflächentechnik ist eine sehr komplexe Technologie, für die verschiedene Technikvarianten relevant sind und betrachtet werden müssen. Zum Beispiel ist die Summe der Eingangsparameter für eine Produktion unter optimalen Bedingungen und bestmöglichem Ergebnis zu vielfältig, um hier nachhaltige Entscheidungen für die Reihenfolge der Fertigungspositionen treffen zu können.

Die B+T Unternehmensgruppe hat für diese Betrachtungsweise den Begriff Galvanik 4.1 geschaffen.

Redaktion: Was verstehen Sie unter dem Begriff?

Frank Benner (lacht): Bei der Diskussion zum geplanten Projekt zur Digitalisierung der Oberflächenbranche, kam es zu den verschiedensten Ansätzen, was unter Industrie 4.0 zu verstehen ist und diese Definition soll allen zeigen, dass wir mehr wollen als das übliche. Die Einbeziehung der Menschen und die Erweiterung im Gesamtprozess auf Lieferanten und Kunden.

Redaktion: Industrie 4.0 ist für viele Unternehmen ein Trend, bei dem jeder mitmacht - wie beispielsweise im Umfeld der Hannover Messe 2019 als Schaufenster der Industrie festzustellen war; erfolgreiche Umsetzung gelingt aber den wenigsten. Was unterscheidet Sie bei der Vorgehensweise?

Norbert Kaufmann: Die Umsetzung kann nur von innen heraus erfolgen. Wir beziehen den Menschen und Mitarbeiter in die Planung ein und entwickeln nur das was auch benötigt wird. Intensive Gespräche am Arbeitsplatz, beziehungsweise selbst die Tätigkeiten durchführen, weisen uns die Richtung. Diese Vorgehensweise macht es dann auch im Anschluss leicht, neue Technologien und Denkweisen einzuführen und erfolgreich anzuwenden.

Redaktion: Worin bestehen für Sie die Notwendigkeiten Galvanik 4.1 in der Unternehmensgruppe zu etablieren?

Edgar Kaufmann: Die jährliche Umfrage, wie sich unsere Mitarbeiter in der Gruppe fühlen, hat diese Notwendigkeit sehr dringlich aufgezeigt. Erstmalig konnten wir zwei Standorte mit den gleichen Primärprozessen vergleichen, mit dem Ergebnis, dass der Mitarbeiter sich deutlich unterschiedlichen Anforderungen an seine Aufgabenerfüllung ausgesetzt sieht. Die Anforderungen wachsen, die Prozessabläufe werden komplexer und die Informationen nehmen zu. Der Umgang mit bereitgestellten Informationen wird scheinbar schwieriger.

Redaktion: Wie beziehen Sie die Mitarbeiter in diese Veränderungen ein?

Edgar Kaufmann: In einer immer komplexeren Welt ist es für den einzelnen kaum mögliche, sämtliche Faktoren zu kennen, diese in ihrem Kontext zu verstehen und zum richtigen Zeitpunkt richtig zu agieren. Oh, das habe ich vergessen, das kann jedem passieren. Das ist doch menschlich! Solche Statements höre ich immer wieder. Unsere Zeit ist nicht nur komplex, sie überflutet uns mit einer ungeahnten Flut an Informationen.

Menschen müssen die dahinterstehende Technologie verstehen. Das heißt, sie müssen Hintergrundwissen bekommen und das nimmt ihnen die Angst davor. Dies bedeutet in erster Linie die Reduzierung von Versagensängsten, um Gedanken wie: Ich kann mit der Technologie nicht mehr Schritt halten oder Ich gehöre zum alten Eisen müssen vermieden werden. Und gleichzeitig müssen Mitarbeiter verstehen, dass digitale Vernetzung keine Arbeitsplätze kostet. Der Roboter wird mich nicht ersetzten, sondern der Computer wird mich unterstützen - das muss die Devise sein!

Dazu haben wir in unserer beiden Werken eine kleine Befragung unserer Mitarbeiter durchgeführt (Ergebnis in der Tabelle unten):

Redaktion: In welchen Bereichen sehen Sie die größten Erfolgsaussichten für die Umsetzung?

Norbert Kaufmann: Hier gibt es nicht DEN einen Bereich. Wird das Unternehmen als Einheit betrachtet, müssen mittelfristig alle Abteilungen und Prozesse mit eingebunden werden. Ja, eigentlich geht die Betrachtung entlang der kompletten Lieferkette. Das bedeutet Einbeziehen von Kunden und Lieferanten in gleicher Weise. Hier sehen wir die größte Herausforderung, aber gleichzeitig auch die größten Chancen.

Redaktion: Welche Voraussetzungen mussten Sie schaffen, um neue Technologien zum Einsatz zu bringen?

Edgar Kaufmann: Eine wichtige Voraussetzung ist eine schlagkräftige junge IT-Truppe, die auch mit außergewöhnlichen Ideen und Ansätzen an die Dinge herangeht. Erfolgsentscheidend ist dann zusätzlich die Führung und Lenkung dieser Entwicklungen in die Industrieprozesse.

Redaktion: Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus dem Forschungsprojekt bezüglich neuer IT-Technologien in Produktionsbetrieben?

Frank Benner: Das Projekt Galvanik 4.1 hat uns deutlich gezeigt, dass Industrie 4.0 nicht nur Vernetzung von Anlagen bedeutet, sondern es förderlich ist, die Komplexität der modernen Galvanotechnik über einen Digitalen Zwilling mit allen Ein- und Ausgangsgrößen zu entwickeln und die resultierenden, maßgeblichen Informationen in aufbereiteter Form dem Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen.

Für die erfolgreiche und konstruktive Zusammenarbeit aller Projektteilnehmer möchten wir uns im Nachhinein nochmalig recht herzlich bedanken.

Redaktion: Vielen Dank für die interessanten Einblicke in das Projekt und die Ausblicke auf die weitere Entwicklung zur Umsetzung von Industrie 4.0 beziehungsweise Galvanik 4.1 im mittelständischen Dienstleistungsbereich.

 

Text zum Titelbild: Das neue Werk der B+T Unternehmensgruppe in Hüttenberg nutzt die Erkenntnisse des geförderten ZIM-Projekts zur Optimierung der Fertigung; deutlich optimierte Lieferkette aufgrund des B+T-Angebots aus Wärmebehandlung (links oben) und Trommelverzinkung (rechts unten)

Die Eigentümer und Geschäftsführer der B+T Unternehmensgruppe stehen für innovative und effiziente Prozesstechniken: Sarah (links), Annalina und Frank Benner (rechts) sowie einer der Gründer des Vorgängerbetriebes Ruhl & Co. GmbH Willi Perschbacher

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