Sie sind in der Lage, sich an ihre Umgebung anzupassen und dadurch zum Beispiel autonomer, energieeffizienter oder verträglicher für den menschlichen Körper zu agieren: Intelligenten Materialien kommt eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung innovativer Bauteilen für Medizintechnik und Industrie zu. Sie können sich bei Beschädigungen selbst reparieren, nehmen nach Verformungen wieder ihren ursprünglichen Zustand an oder erzeugen eigenständig Energie. Auch an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) wird seit Langem an solchen Materialien geforscht, zum Beispiel an speziellen Sensoren zur Messung der Herz- und Gehirnaktivität oder neuartigen Implantaten zur Behandlung von Gehirnerkrankungen wie Epilepsie. Bereits zum vierten Mal organisierte die CAU, zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde (DGM), das European Symposium on Intelligent Materials, das vom 17. bis 19. Juni in Kiel stattgefunden hat. Rund 120 Expertinnen und Experten diskutierten auf der internationalen Tagung über aktuelle Anwendungsmöglichkeiten und Zukunftstrends der Materialentwicklung. Die Tagung wird vom Sonderforschungsbereich 1261 (Magnetoelectric Sensors: From Composite Materials to Biomagnetic Diagnostics), dem Graduiertenkolleg 2154 (Materials for Brain) und der Forschungsgruppe FOR 2093 (Memristive Bauelemente für neuronale Systeme) in Zusammenarbeit mit der DGM organisiert.
Faszinierende Eigenschaften bieten großes Anwendungsspektrum
Intelligente Materialien sind im Allgemeinen so aufgebaut, dass sie selbstständig auf äußere Reize wie Licht, Temperatur, elektrische oder magnetische Felder oder chemische Veränderungen reagieren können. Ihre besonderen Eigenschaften verdanken die dementsprechend auch als responsiv bezeichneten Werkstoffe in der Regel der Kombination von verschiedenen Materialklassen oder bestimmten Nanostrukturen. Beides kann auch an der CAU hergestellt werden, zum Beispiel im Reinraum des Kieler Nanolabors.
In der Entwicklung von neuen Materialien ist nach den Worten von Christine Selhuber-Unkel, Professorin für Biokompatible Nanomaterialien und Sprecherin des GRK 2154, in den letzten Jahren unglaublich viel passiert. Aus neuen Materialien hergestellte Bauelemente können ihr zufolge heutzutage zu einem gewissen Grad eigenständig funktionieren und besitzen mit ihren faszinierenden Eigenschaften immense Anwendungspotentiale, in Bereichen wie Medizin, Technik oder Energie. Christine Selhuber-Unkel organisiert die Tagung zusammen mit Eckhard Quandt, Professor für Anorganische Funktionsmaterialien an der CAU und Sprecher des SFB 1261. So ein Forschungsgebiet sei insbesondere auf den intensiven Austausch von verschiedenen Disziplinen angewiesen, um neue Forschungsfragen und gemeinsame Projekte anzustoßen, sagte Selhuber-Unkel weiter. In über 60 Vorträgen präsentierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Materialwissenschaft, Physik, Chemie und Biologie ihre aktuellen Forschungsergebnisse auf der Konferenz präsentieren.
Außerdem umfasste das Tagungsprogramm einen Netzwerkabend für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie ein interaktives Format speziell für Frauen, in dem sich junge Wissenschaftlerinnen mit erfahrenen Kolleginnen über Karrierethemen austauschen konnten. Ein wichtiges Ziel der Tagung war auch die Förderung von deutsch-norwegischen Kooperationen im Bereich biofunktionaler Materialien, also Materialien, die von der Natur inspiriert wurden oder durch ihre Struktur besonders verträglich für den menschlichen Körper sind – zum Beispiel in der medizinischen Anwendung. Auch Selhuber-Unkel forscht unter anderem an Materialien, die das Wachstum von Zellen befördern und so die eigenständige Regeneration von Gewebe unterstützen könnten. Ein Programmabschnitt widmet sich gezielt diesen Kooperationen, gefördert vom Deutsch-Norwegisches Studienzentrum der CAU.
Auszeichnungen für Nanowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler
Ein weiteres Highlight der Tagung war die Vergabe der Diels-Planck-Lecture am zweiten Konferenztag. Mit der Auszeichnung ehrt der CAU-Forschungsschwerpunkt Kiel Nano Surface and Interface Science (KiNSIS) jedes Jahr international herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Gebiet der Nanowissenschaften und Oberflächenforschung. In diesem Jahr ging der Preis an Professor Dr. Zhong Lin Wang vom US-amerikanischen Georgia Institute of Technology für seine bahnbrechenden Arbeiten in der Entwicklung von Nanogeneratoren und sich selbst versorgenden Systemen – mikroskopisch kleine Stromgeneratoren, die mit kleinsten Bewegungen mobile Geräte betreiben könnten.
CAU-Präsident Professor Lutz Kipp (v. links) und KiNSIS-Sprecher Professor Jeffrey McCord (Mitte) übergaben Professor Zhong Lin Wang vom Georgia Institute of Technology die Diels-Planck-Medaille (©Siekmann/CAU
Wir sind sehr stolz, heute einen Pionier der Nanotechnologie hier begrüßen zu dürfen, sagte CAU-Präsident Professor Lutz Kipp zum Auftakt der Veranstaltung. Wang, Direktor des Center for Nanostructure Characterization am Georgia Tech und Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, ist führend in der Entwicklung von Zinkoxid-Nanostrukturen, insbesondere Nanogeneratoren. Sie können aus geringen mechanischen Bewegungen kostengünstig und dezentral Strom erzeugen. Unter dem Stichwort Energy Harvesting hat diese Technologie Wissenschaft und Industrie im Bereich Energie stark beeinflusst. Es bezeichnet die Nutzung von Energie, die in der Umgebung ohnehin vorhanden ist, wie Körper- und Wasserbewegungen, Luftströmungen oder Temperaturunterschiede. Denkbar sind damit neben der Versorgung mobiler Geräte auch biomedizinische Anwendungen in Sensoren oder der Einsatz als tragbare Elektronik in smarten Textilien. Wang ist ein Vordenker der Nanotechnologie, der mit seinen visionären Arbeiten nicht nur neue Forschungsfelder begründet hat, sondern auch zentrale Begriffe wie Piezeoelektronik geprägt hat, sagte Rainer Adelung, Professor für Funktionale Nanomaterialien an der CAU, in seiner Laudatio. Außerdem habe Wang wichtige Grundlagen für nanowissenschaftliche Untersuchungsmethoden wie die Transmissionselektronenmikroskopie entwickelt.
Im zweiten Teil der Festveranstaltung zeichnete KiNSIS die besten Kieler Dissertationen aus der Nano- und Oberflächenforschung des vergangenen Jahres aus. Aus den Ergebnissen ihrer Promotionsarbeiten sind neue Forschungsfelder, innovative Materialien und erste Patente entstanden; sie haben Großforschungsprojekte der CAU erfolgreich vorangebracht oder wurden bereits in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlicht und vielfach zitiert.
Werkstoffforschung in Kiel
Kiel hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum für innovative Materialforschung entwickelt, vor allem im Hinblick auf medizinische Anwendungen. Unter dem Dach von KiNSIS arbeiten daran Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im engen interdisziplinären Austausch. Aktuelle Einblicke in diese Forschung gaben bei der Tagung unter anderem Vertreterinnen und Vertreter dreier Kieler Großforschungsprojekte, die in den vergangenen Jahren gestartet sind und seitdem feste Säulen des Forschungsschwerpunkts bilden:
So werden an der CAU im Sonderforschungsbereich 1261 Magnetoelectric Sensors: From Composite Materials to Biomagnetic Diagnostics zum Beispiel piezoelektrische Materialien erforscht und für die Entwicklung von speziellen Sensoren genutzt. Werden diese Werkstoffe elastisch verformt, erzeugen sie eine elektrische Spannung. Kombiniert mit Materialschichten, die auf magnetische Reize reagieren, lassen sie sich besonders gut für empfindliche Magnetfeldsensoren einsetzen, mit dem Ziel, Herz- oder Gehirnströme messen und damit die medizinische Diagnostik verbessern zu können.
Interdisziplinäre Teams aus der Materialwissenschaft und der Medizin erforschen im GRK Graduiertenkolleg 2154 Materials for Brain neue Materialien für Implantate, um Gehirnerkrankungen wie zum Beispiel Epilepsie lokal zu behandeln. Sie sollen Medikamente kontrolliert nur dort freisetzen, wo sie benötigt werden und so unerwünschte Nebenwirkungen verhindern. Die dafür verwendeten Materialien müssen komplexe Anforderungen erfüllen: Sie sollen gleichzeitig belastbar und flexibel sein, um sich an die besondere Umgebung im Gehirn anzupassen und in bestimmten Arealen selbstständig Wirkstoffe abgeben zu können.
Wie die Lern- und Gedächtnisprozesse des menschlichen Gehirns im Einzelnen ablaufen, das untersucht die Forschungsgruppe 2093 Memristive Bauelemente für neuronale Systeme. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Neurologie über die Materialwissenschaft bis zur Nanoelektronik wollen diese Prozesse technisch nachbilden, um sie besser zu verstehen. Der Schlüssel dafür sind sogenannte memristive Bauteile, die in der Lage sind, elektrische Zustände zu speichern. Sie funktionieren ähnlich der Synapsen im Gehirn, die Prozesse speichern, die beim Verknüpfen von Informationen ablaufen.
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