Mit smarten Prozessen zu smarten Medizinprodukten

Medizintechnik 08. 03. 2020
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Wird Smart Manufacturing die Medizintechnik auf den Kopf stellen? Antworten hierzu sollen MedtecLIVE und ­MedTech Summit Newsroom vom 31. März bis 2. April in Nürnberg liefern

 

Einer der Förderschwerpunkte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung mit dem Titel Vernetzte Produktion medizintechnischer Systeme wirtschaftlich und in höchster Qualität klingt stark nach Industrie 4.0, der intelligent vernetzten Produktion. Weitergedacht kann diese Vernetzung zu personalisierten Medizinprodukten führen. Auf der Fachmesse für Herstellung und Zuliefererbereiche der Medizintechnik wird unter anderem darüber informiert, welche Chancen die vernetzte, intelligente Fertigung bietet und wie der Reifegrad dieser neuen technologischen Möglichkeiten ist.

Auch wenn das BMBF die ­Prozessinnovation in der Medizintechnik ausdrücklich zum Gegenstand der Förderung erhebt, zeigt ein Blick in den Katalog der geförderten Projekte: Es überwiegt klar die ­Produktinnovation, bei der die Entwicklung von einzelnen Medizinprodukten gefördert wird. Bei der Prozess­innovation hingegen ist noch viel Potenzial zu heben. Eine Studie der Unternehmensberatung Roland Berger und des Industrieverbands Spectaris sieht insbesondere große Chancen durch die Vernetzung von Medizinprodukten und die Nutzung von KI. Bei den Produktionsprozessen der mittelständisch geprägten deutschen Medizintechnikindustrie allerdings steckt die Vernetzung von Maschinen noch in den Kinderschuhen. Dabei bietet das sogenannte Smart Manufacturing jede Menge Potenzial.

BMBF (Halle 10, Stand 321)

Personalisierte, also individuell auf den Patienten zugeschnittene Medizinprodukte sind nach Aussage von Alexander Stein, ­Director MedtecLIVE bei der NürnbergMesse, eines der großen Zukunftsthemen der Gesundheitswirtschaft. Die Technologien, solche Produkte in intelligenten Fabriken herzustellen sind ihm zufolge vorhanden. Der nächste Schritt sei jetzt, Prozess-Know-how, Automatisierungstechnik und Hersteller von Medizinprodukten bestmöglich zu vernetzen, um die Innovationsgeschwindigkeit zu erhöhen.

Digitaler Informationsfluss ­zwischen Zulieferer und Hersteller

Eine Herausforderung sehen viele Hersteller in den verhältnismäßig kleinen Losgrößen der Produktion. Dr. Stephan Hüwel vom Systemtechnikproduzenten Jüke weist darauf hin, dass derzeit Komponenten batchweise in Hunderter- oder Tausender-Stückzahlen produziert werden. Die Produktionsdaten sind heute schon vollständig digitalisiert: Alle Prozesse von Einkauf und Entwicklung über Produktion und Qualitätsmanagement werden durch ein zentrales ERP-System unterstützt. Die digitale Montageanleitung ist dann verfügbar, wenn der Mitarbeiter sie benötigt, und die QM-Prüfung wird ebenfalls ­digital dokumentiert. Der Automatisierungsgrad der ­Produktion ist dabei gering. Dennoch ist Industrie 4.0 ein Thema für die Kunden. Der Systemtechnikhersteller produziert die Serienprodukte, die in der Konfiguration dann individualisierbar sind. Deshalb werden vermehrt spezielle Funktionalitäten in die Komponenten eingebaut. Das sind zum Beispiel Kommunikationsschnittstellen für die Datenübertragung zu anderen Geräten.

Jüke Systemtechnik (Halle 10, Stand 334)

KI liefert smarte Diagnostik

Dass zunächst die großen Unternehmen von Smart Manufacturing profitieren, unterstreicht auch Prof. Dr. Ing. Philipp Gölzer, Leiter des Geschäftsfelds Digitalisierte Produktion bei der Fraunhofer-Arbeitsgruppe für Supply Chain Services SCS in Nürnberg. Der Professor für Digitale Fabrik und Materialfluss­systeme an der TH Nürnberg weist darauf hin, dass für kleinere Unternehmen die Hürde recht hoch ist, Smart Manufacturing einzuführen. Der Einsatz von Smart Manufacturing bedeutet nämlich Ansätze auf verschiedenen Ebenen. So muss die Prozesskette neu erfunden und implementiert werden. Das umfasst nach seiner Erfahrung viele Facetten.

Leichter sei der Einsatz von Künstlicher Intelligenz innerhalb von medizintechnischen Geräten zu realisieren. Nach Meinung von Prof. Dr. Gölzer ist KI auch im Kleinen machbar. Damit hebt er auf eine zweite Sphäre des Smart Manufacturing ab: die Vernetzung von medizinischen Geräten, um die Diagnostik – also letztlich die Produktion von Befunden – intel­ligent zu automatisieren. Wenn eine ­Anlage eine selbstständige Entscheidung treffen kann, wie beispielsweise ein Computertomograph, der seine Bilder mit KI selbst auswertet, ist auch das smart. Smart Manufacturing bedeutet, dass Bestandteile der Produktion oder von Systemen intelligent werden. Das bedeute, sie sind in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, ihre Prozesse zu optimieren und sich autonom zu verhalten, so Gölzer.

Bewährte Lösungen in der Zahnheilkunde

In der Zahnheilkunde sind smarte Produk­tionsverfahren bereits seit Jahren im Einsatz: Der Zahnarzt stellt Bilddaten zur Verfügung, im Laserschmelzverfahren wird dann ein Kronengerüst in wenigen Minuten gefertigt. Die Arbeit des Zahntechnikers wird deutlich erleichtert. Die große Individualität bei den Produkten stellt dank Smart Manufacturing kein Problem für Produktion oder Logistik dar, wie Alexandros Lagaris, Geschäftsführer der LAC Laser Add Center GmbH im oberfränkischen Selb, betont.

Vom CT-Scan zum ­personalisierten Implantat

Während in der Zahnheilkunde auch früher schon vom Zahntechniker individuelle Brücken oder Kronen angefertigt wurden, überwiegt in der Mehrzahl der Medizinprodukte der Standard. Große Modell- und Größenvielfalt sorgen heute dafür, dass ein Medizinprodukt annähernd zum Patienten passt. Ob künstliches Hüftgelenk oder Fußprothese – Standardprodukte decken viele Bereiche ab, die Herstellung von individuellen Prothesen ist jedoch aufwändig und teuer. Eine Lösung dieses Zielkonflikts von Passgenauigkeit und Kosten kann Smart Manufacturing bieten, wie zwei Beispiele aufzeigen.

Auf der Basis der eigenen Product ­Lifecycle Management (PLM)-Software hat Siemens für die Herstellung von Endoprothesen einen vollständig digitalisierten Prozess ent­wickelt. Mit Hilfe eines CT-Scans und von Kernspindaten entsteht ein virtuelles 3D-Modell des zu ersetzenden Gelenks. Der Chirurg plant dann webbasiert die passende Versorgung und entscheidet sich entweder für eine Standard-Endoprothese oder ein personalisiertes Implantat. Sind für den Eingriff gegebenenfalls spezielle, individuell anzufertigende Instrumente nötig, kann auch dies bei der Operationsplanung berücksichtigt werden. In dem Fall, dass ein personalisiertes Implantat angefertigt werden muss, entstehen automatisch CAD-Daten, die wiederum für die CNC-Maschine aufbereitet werden. Parallel dazu kann der Materialbeschaffungsprozess starten, das Implantat wird in der Produktion eingeplant und die Maschinendaten rechtzeitig an die Maschine übergeben.

Auch die Qualitätskontrolle wird im PLM-System regelgerecht dokumentiert. Die PLM-Software stellt dabei das Bindeglied zwischen Klinik und Hersteller dar: Alle Kommunikations- und Datenflüsse werden zentral organisiert, die Produktionsdaten aufbereitet und in die Fertigung übergeben.

Im Gegensatz zum Standard-Implantat, bei dem der Knochen an das Implantat angepasst werden muss, passt das ­personalisierte Implantat perfekt zur Anatomie des Patienten. PLM-Systeme – als zentrale Plattform der smarten Fertigung – unterstützen den Hersteller auch dabei, die regulatorischen Vorschriften einzuhalten und ihre Einhaltung zu dokumentieren.

Dokumentation und Compliance, insbesondere mit Blick auf die MDR, ist auch Thema beim MedTech Summit Congress & Partnering parallel zur MedtecLIVE.

Geförderte Prozessinnovation

Manuel Opitz, Geschäftsführer des Münchner Medizintechnikunternehmens Mecuris, weist darauf hin, dass zukünftig die Möglichkeit geboten wird, über Nacht maßgeschneiderte Orthesen und Prothesen zu erstellen. Dazu hat das Unternehmen eine digitale Werkstatt, die Mecuris Solution Platform entwickelt. Für die Orthesenerstellung dient ein 3D-Scan als Ausgangspunkt und ersetzt den klassischen Gipsabdruck. Die Maße des Anwenders werden eingelesen und Fehlhaltungen entweder durch das System automatisch oder manuell durch den Orthopädietechniker korrigiert. Zusammen mit dem Patienten wählt dieser dann das Wunschdesign aus. Die Daten verschickt der Techniker im Anschluss an ein lokales, auf additive Fertigung spezialisiertes Druckzentrum, welches das entsprechende Hilfsmittel präzise fertigt. Nach einer Qualitätskontrolle durch Mecuris bekommt der Orthopädietechniker die Schiene, die er anschließend final anpasst. Die Arbeitszeit, die ein Orthopädietechniker in die Erstellung einer Orthese in der digitalen Werkstatt investiert, wird im Vergleich zur traditionellen Herstellungsweise deutlich reduziert. Der 3D-Druck ersetzt keinesfalls die physische Werkstatt, geschweige denn das Fachwissen der Orthopädietechniker. Aber in zwei bis drei Jahren wird er nach Meinung von Opitz einen signifikanten Anteil in der Produktion ausmachen.

Damit hat Mecuris genau das umgesetzt, was Professor Gölzer als Schlüssel zu einer smarten Fertigung bezeichnet: Das Unternehmen hat die Prozesskette der Orthesenherstellung neu aufgezogen und ein gänzlich neues Fertigungsverfahren implementiert. Damit die 3D-gedruckten Orthesen den mechanischen Belastungen im Patientenalltag gewachsen sind, werden diese dann vor Ort vom Orthopädietechniker mit thermoplastischen Fasertapes individuell verstärkt. Eine echte Innovation im Prozess, die es auch auf die Förderliste des Bundesministeriums für Bildung und Forschung geschafft hat.

Die Kooperation eines mittelständischen ­Unternehmens mit der Technischen Hochschule Kaiserslautern zeigt anschaulich, dass Smart Manufacturing auch für den Medizintechnik-Mittelstand beeindruckende Chancen bietet.

 

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