Materialien für die Zukunft gemeinsam vorantreiben

Medizintechnik 04. 04. 2020
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DFG-Mercator-Fellow Richard D. James von der Universität Minnesota forscht an der Universität Kiel
zu Formgedächtnismaterialien

Zur Behandlung von Durchblutungsstörungen des Herzens werden häufig Stents eingesetzt, um die Gefäße offen und damit den Blutstrom aufrecht zu erhalten. Oft bestehen diese ultrafeinen Drahtröhren aus sogenannten Formgedächtnislegierungen: Sie sind in der Lage, sich auch nach einer starken Verformung an ihren Ausgangszustand zu erinnern und in ihre ursprüngliche Form zurückzukehren. So kann sich zum Beispiel ein Stent, der über einen kleinen Katheter eingesetzt wird, in der Herzarterie zu seiner eigentlichen Größe entfalten. Diese superelastischen Materialien kommen bereits in vielen medizinischen und technischen Anwendungen zum Einsatz. Eine zentrale Anforderung dafür ist eine ausreichende Lebensdauer. 

Keramiken gelten normalerweise als zu zerbrechlich, um als Formgedächtnismaterialien eingesetzt zu werden. Professor Eckhard Quandt von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und Professor Richard D. James von der Universität Minnesota sehen allerdings großes Potential in ihrer Widerstandsfähigkeit. Sie erforschen keramische Materialien im Rahmen eines Reinhart-Koselleck-Projekts, mit dem die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) besonders innovative Forschungsprojekte fördert. Um die gemeinsame Arbeit noch zu vertiefen, hat Quandt jetzt zusätzlich ein Mercator-Fellow­ship der DFG eingeworben. Sie ermöglicht James als international anerkanntem Experten für Formgedächtnismaterialien insgesamt ein Jahr an der CAU zu forschen, um die Entwicklung von neuen Materialien für Anwendungsbereiche wie Medizin, Industrie und Energie voranzutreiben.

Warum ­Verformungsprozesse umkehrbar sind

Ausgelöst durch Temperaturänderungen können Formgedächtnismaterialien zwischen unterschiedlichen Formen hin- und herwechseln. Dabei durchlaufen sie auf struktureller Ebene verschiedene Phasen. Da die Phasenübergänge umkehrbar sind, können diese Materialien frühere Zustände wieder einnehmen. Ich will verstehen, wie diese Phasen ohne Verzerrungen passgenau aneinander anschließen können. Dafür versuchen wir herauszufinden, welche physikalischen Prinzipien bei diesen Veränderungen auf atomarer Ebene wirken, so Richard D. James, Professor für Aerospace Engineering and Mechanics an der Universität Minnesota. Superkompatibel nennt er die Eigenschaft der Phasen, wenn sie perfekt zusammenpassen. Er und Eckhard Quandt untersuchen diese Eigenschaften bereits seit einigen Jahren im Zusammenhang mit Formgedächtnismaterialien. Künftig wollen sie noch stärker zusammenarbeiten.

Keramische Materialien könnten auch hohen Temperaturen standhalten

Im aktuellen Projekt wollen die Forscher herausfinden, welche Faktoren die Lebensdauer von Formgedächtnismaterialien beeinflussen und wie sich diese optimieren lassen. So könnten wir neue Materialien entwickeln, die zusätzliche Anwendungen in der Medizin und der Industrie ermöglichen, erläutert Quandt, Professor für Anorganische Funktionsmate­rialien an der CAU.

Einen besonderen Vorteil hätten Formgedächtnismaterialien aus Keramik, die Quandt im Rahmen des Reinhardt Koselleck-­Projekts Kristallographisch kompatible keramische Formgedächtniswerkstoffe bereits seit längerem erforscht: Anders als metallische Werkstoffe könnten sie auch bei extremen Bedingungen wie sehr hohen Temperaturen eingesetzt werden, zum Beispiel als Steuer­elemente in Verbrennungsmotoren. Bislang ist ihr Verformungsprozess jedoch noch nicht ausreichend reversibel, so dass weitere Forschungsarbeiten notwendig sind.

Ein anderer Fokus der Forschungskooperation liegt auf dem bereits seit langem bekannten Phänomen der sogenannten Hysterese: Die Temperatur, bei der ein Material seine Form verändert, kann eine andere sein als die, bei der es in seinen Ursprungszustand zurückkehrt. Ebenfalls bekannt ist, dass sich dieser Temperaturunterschied nahezu beheben lässt, wenn die Veränderungen im Material unter ganz bestimmten, definierten Bedingungen ablaufen. Wir vermuten, dass dies am besten funktioniert, wenn die komplexen geometrischen Voraussetzungen für superkompatible Phasenübergänge erfüllt sind, so James. Theorien wie dieser wollen sie im Rahmen des Mercator-Fellowships in den nächsten Monaten nachgehen.

Langjährige Kooperation geht voraus

Eine vielbeachtete Publikation im ­führenden Wissenschaftsjournal Science war der Ausgangspunkt für die enge wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen James und Quandt, in der mittlerweile einige gemeinsame Publikationen entstanden sind – auch zusammen mit dem Kieler Graduiertenkolleg 2154 Materials for Brain. In dem Artikel konnte Quandt 2015 zeigen, wie ein neuartiges Dünnschicht-Formgedächtnismaterial aus einer Titan-Nickel-Kupfer-Legierung bis zu zehn Millionen Belastungszyklen schadlos übersteht. Seiner Arbeitsgruppe ist es mithilfe der Infrastruktur des Kieler Nanolabors gelungen, einen Prozess für die Herstellung hochreiner Materialien zu entwickeln, die unter anderem für Formgedächtniswerkstoffe genutzt werden können. An qualitativ hochwertigen Ausgangsmaterialien ohne ­Risse in der Struktur lassen sich nach Aussage von Quandt Ermüdungserscheinungen durch Belastungen besonders präzise bestimmen. Durch die Möglichkeit, mithilfe von Dünnschichttechnologie solche Materialien von hoher Qualität zu produzieren, ist bereits eine Ausgründung entstanden.

Mit James arbeitet jetzt einer der international führenden Theoretiker auf dem Gebiet der Formgedächtnismaterialien in dem Forschungsprojekt mit.

Text zum Titelbild: Prof. Richard D. James (r.) wird als Mercator Fellow der DFG ein Jahr lang gemeinsam mit Prof. Eckhard Quandt von der CAU an neuen Formgedächtnismaterialien forschen (© Julia Siekmann, Uni Kiel)

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