TU Ilmenau und ZVO kooperieren zu ganzheitlichen Entscheidungsfindungen
Tagtäglich sehen wir uns schwierigen Entscheidungssituationen gegenüber. Oft fehlt es dabei scheinbar an ausreichenden Informationen, die kurz- wie langfristigen Auswirkungen sind unklar. Egal ob Personal- oder Investitionsentscheidung, Abschaffung von Bargeld oder konventionellen Energieträgern, Förderung des autonomen Fahrzeugs oder Grundlagenforschung sowie familiäre Reiseplanung oder Klimaschutz – in solchen Fällen nehmen wir oft an, wir befänden uns in einer komplizierten Situation und geeignete Maßnahmen ließen sich nur durch eine ausreichende, oft ausufernde Menge an Daten finden. Wer kennt nicht die Informations- und Datensammelwut von Regulierungsbehörden oder das umfangreiche, stets wachsende Berichtswesen für das Controlling in großen Unternehmen? Doch trotz der vielen Daten treten immer wieder unvorhergesehene Folgen auf, weil komplexe Vernetzungen nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Aber warum?
Komplizierte Probleme mögen schwierig zu lösen sein – jedoch sind sie auf eindimensionale Ursache-Wirkungs-Beziehungen beschränkt. Diese Beziehungen sind eindeutig und allgemein gültig, das heißt, es werden generelle, stabile, stets reproduzierbare Situationen erwartet. Es gibt für alles einen Grund, eine Ursache oder einen Schuldigen. Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren, Lass uns eines nach dem anderen machen oder Da kümmern wir uns anschließend drum, sind dabei typische Formulierungen.
Häufig wird die Entscheidungsfindung durch dieses Vorgehen nur scheinbar vereinfacht. In vielen Situationen werden so Einflussgrößen vernachlässigt, die durch Wechselwirkungen und Rückkopplungen die Eindimensionalität und damit die eindeutige Vorhersagbarkeit aufheben. Die scheinbar komplizierte Fragestellung ist in Wahrheit eine komplexe Problematik.
Komplexe Systeme sind in unserem Alltag keineswegs die Ausnahme; sie sind die Regel. Jeder macht die Erfahrung, dass auch gute Absichten unerwartete Nebenwirkungen zeigen können, was oft in langanhaltenden und unbefriedigenden Reparaturmaßnahmen endet.
Komplexe Systeme bieten keine gerichteten, allgemein gültigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Ein Beispiel für eine solche Rückkopplung: Der Konsum soll durch höhere Löhne angekurbelt werden. Doch erhöhte Nachfrage und Steigerung der Lohnkosten führen zu höheren Preisen, was dem beabsichtigten Effekt der Lohnerhöhungen zuwiderläuft. Die tatsächlichen Folgen können nur durch eine ganzheitliche Betrachtung abgeschätzt werden – und nur daraus erwachsen nachhaltige Entscheidungen und Maßnahmen, die das betroffene System stabil erhalten.
Eine Gruppe aus Industrie und Universität erarbeitete über fünf Tage im Rahmen eines Workshops an der TU Ilmenau (4. bis 8. Oktober) die Herausforderungen von komplexen Entscheidungsfindungen. Ziel war, eine Vorgehensweise zu finden, welche die oben genannten Probleme vermeidet und in praktikabler Weise ganzheitliche Folgenanalysen ermöglicht. Nicht nur sollten alle relevanten Folgen benannt werden können, es wurden auch Entscheidungskriterien erarbeitet, um sinnvolle, erfolgversprechende Maßnahmen von kosmetischen oder gar gefährlichen Maßnahmen zu unterscheiden.
In Gruppenarbeit wurden Beispielsysteme analysiert und zweckmäßige Systemeingriffe identifiziert. Dabei traten immer wieder unerwartete Zusammenhänge zutage, die sich bei herkömmlicher Herangehensweise wahrscheinlich nicht gezeigt hätten. Dass die Systemanalyse ohne aufwändige Mathematik möglich ist, ist eine entscheidende Erkenntnis, um Berührungsängste mit komplexen Systemen zu verringern. Voraussetzung für die korrekte Definition und Beschreibung der Wirkungen von Systemkomponenten ist jedoch eine starke Interdisziplinarität, die auch die Beteiligung von allen Betroffenen sichert. Komplexe Systemanalyse durch einzelne oder wenige Experten führt nicht zum Erfolg.
Ein weiterführendes Ergebnis des Workshops war vor allem, dass das erarbeitete Handwerkszeug zur Systemanalyse und Entscheidungsfindung auch das Potenzial zur Simulation von Systemverhalten hat. Damit könnten zeitliche Entwicklungen ermittelt und diese bei den Entscheidungen und Maßnahmen bereits berücksichtigt werden.
Der Workshop war von der TU Ilmenau zusammen mit dem Zentralverband Oberflächentechnik e. V. (ZVO) als Prototyp ausgelegt. Seitdem wird von der Gruppe intensiv an einer Verbesserung und Fokussierung gearbeitet, um die Inhalte in größerem Maße und gestrafft vermitteln zu können. Die Teilnehmer waren sich einig, dass das Wissen um den korrekten Umgang mit Komplexität weiterverbreitet werden muss. Es wird daher eine universitäre Arbeitsgruppe erwogen, die vor allem der jüngeren Generation diese zur herkömmlichen Spezialisierung alternative Herangehensweise zugänglich machen soll.
- www.zvo.org