Wer sich im produzierenden Gewerbe erfolgreich behaupten möchte, muss seine Teilefertigung kontinuierlich optimieren. Viele der üblichen Optimierungsmaßnahmen sind in der industriellen Serienfertigung jedoch so weit ausgeschöpft, dass keine spürbaren Verbesserungen mehr erzielbar sind. Dies gilt gerade für Zerspanungsprozesse, die oft einen erheblichen Teil der Wertschöpfung ausmachen. Das Gründerteam VibroCut am Fraunhofer IWU in Chemnitz zeigt: Durch innovative Schwingungsunterstützung lassen sich in diesen Prozessen Bearbeitungskräfte, Werkzeugverschleiß, Gratbildung und Spanbruchprobleme reduzieren. Dank Schwingungsunterstützung ist eine deutliche Produktivitätssteigerung realisierbar, auch Stillstandszeiten von Maschinen und Anlagen werden erheblich verringert. Bei der Zerspanung von schwer spanbaren Werkstoffen ist die Schwingungsunterstützung sogar Grundvoraussetzung für eine industrielle Machbarkeit.
Das Team am Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU um Dipl.-Ing. Oliver Georgi nutzt gezielt erzeugte Schwingungen im Bereich bis 100 Hz oder im Ultraschallbereich über 16 kHz, um bei Zerspanungsprozessen bestehende Verfahrensgrenzen zu verschieben. In zahlreichen Industrieprojekten konnte es das technische Potential der schwingungsunterstützten Zerspanung nachweisen und signifikante Kostenvorteile bei dessen Einsatz in der mechanischen Teilefertigung aufzeigen. Besonders in der Großserienfertigung sind die Skaleneffekte groß.
Schwingungsunterstützung im Ultraschallbereich beim Bohren und Tiefbohren
Hochfrequente Schwingungen im Ultraschallbereich (ab 16 kHz) erhöhen beim Bohren und Tiefbohren die Produktivität und Prozesssicherheit. Die Ultraschallschwingungen führen in bestimmten Materialien, wie Kupfer- oder Aluminiumlegierungen, zu werkstofftechnischen Effekten, wodurch die Zerspanungskräfte deutlich sinken. In der Folge kann die Produktivität durch eine Erhöhung der Schnittwerte gesteigert werden. Ein Beispiel: Bei einem Maschinenstundensatz von 130 Euro, einer jährlichen Planbelegungszeit von 6000 Stunden sowie einem Hauptzeitanteil des Bohrens von 35 Prozent, führt eine 40-prozentige Erhöhung von Drehzahl oder Vorschub zu einer Produktivitätssteigerung von zehn Prozent oder Einsparungen in Höhe von 78 000 Euro. Werden diese Schnittparameter um 100 Prozent erhöht, können sogar 136 000 Euro Betriebskosten eingespart werden.
System für das ultraschallunterstützte Bohren und Tiefbohren (© Fraunhofer IWU)
In anderen Anwendungsfällen steht die positive Auswirkung in Bezug auf die Gratbildung im Vordergrund. Durch die Reduzierung der Vorschubkraft wird diese so weit vermindert, dass Bearbeitungsaufwände zum Entgraten reduziert werden und in manchen Fällen sogar vollständig entfallen können. Beim Tiefbohren sorgt die Ultraschallunterstützung für einen verbesserten Spanabtransport und mehr Prozesssicherheit. Durch die genannten werkstofftechnischen Effekte wird der für die Qualität bestimmende Mittenverlauf verringert. Die Ultraschallschwingung modifiziert zusätzlich Reibungskontakte in der Zerspanungszone und damit den Werkzeugverschleiß: Die Werkzeugstandzeit steigt signifikant. In bestimmten Anwendungen, etwa bei der Zerspanung von schwer spanbaren Materialien wie Nickelbasislegierungen, ermöglicht erst die Ultraschallunterstützung eine ausreichende Prozessfähigkeit, akzeptable Werkzeugstandzeiten und damit eine wirtschaftliche Fertigung.
Schwingungsunterstützung im niederfrequenten Bereich beim Drehen
Bei Zerspanungsprozessen mit kontinuierlichem Schneideneingriff, wie dem Drehen, ist der Spanbruch eine große Herausforderung. In der Serienfertigung führen Störgrößen wie Werkzeugverschleiß oder Chargenschwankungen dazu, dass oft kein prozesssicherer Spanbruch eingestellt werden kann. Lange Späne und Wirrspäne können die Werkstücke beschädigen und führen zur Bildung von Spänenestern, welche den Spänefluss stören. Derartige Spänenester müssen manuell beseitigt werden, was nur bei Maschinenstillstand möglich ist. Wird der Spanbruch nicht beherrscht, ist in einigen Fällen sogar der Fertigungsprozess nicht automatisierbar. Durch die Schwingungsunterstützung mit bis zu 100 Hz und 0,6 mm Schwingweite entstehen prozesssicher kurze und definiert gebrochene Späne. Wo Drehmaschinen bisher selbst in der Serienfertigung mehrere Minuten pro Stunde gestoppt werden mussten, verursacht der Spanbruch nun keine Produktionsunterbrechungen mehr. Die Schwingungsunterstützung bei der Zerspanung wird mit innovativen und flexiblen Systemen realisiert, welche als Werkzeughalter am Revolver der Drehmaschinen eingewechselt werden können. Folgendes Beispiel beim Innendrehen unterstreicht das Einsparpotential durch die verbesserte Maschinenverfügbarkeit: Bei einem Maschinenstundensatz von 85 Euro und einer jährlichen Planbelegungszeit von 6000 Stunden führt ein spanbruchbedingter Nutzungsausfall von durchschnittlich sechs Minuten pro Stunde zu einem jährlichen Nutzungsverlust von zehn Prozent und Stillstandskosten in Höhe von 51 000 Euro. Diese Kosten sind durch den Einsatz der neuartigen Technologie vermeidbar.
Innovatives System für das schwingungsunterstützte Drehen (© Fraunhofer IWU)
Anwendung in der Radlagerfertigung
Insbesondere in der Automobilindustrie kann die schwingungsunterstützte Zerspanung einen Beitrag leisten, um die Effizienz bei der Fertigung von zahlreichen Teilefamilien zu verbessern. Der Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler setzt das schwingungsunterstützte Drehen erfolgreich beim Innendrehen in der Radlagerfertigung ein, um die Produktivität weiter zu steigern. Auch die Ultraschallunterstützung realisierte das Unternehmen gemeinsam mit dem Fraunhofer IWU für die Kernbohrungen der Gewinde in den Radlagern.
Mit Schwingungsunterstützung erzeugte kurze Späne (Bildvordergrund) im Vergleich zu langen Spänen (konventioneller Drehprozess mit identischen Parametern) (© Fraunhofer IWU
VibroCut: Ausgründung aus dem Fraunhofer IWU
Das Gründungsvorhaben VibroCut ist die Antwort des Forscherteams um Oliver Georgi auf das große Interesse vieler Industriepartner an innovativen Lösungen für mehr Effizienz in der Zerspanung. VibroCut wird zukünftig Schwingsysteme vertreiben, die als Funktionserweiterung für bestehende Werkzeugmaschinen nachgerüstet werden können. Darüber hinaus wird das Unternehmen Dienstleistungen wie kundenspezifische Technologieentwicklung, Maschinenintegration und Schulungen anbieten, seine Kunden also mit Komplettlösungen für die schwingungsunterstützte Zerspanung unterstützen.
Das künftige VibroCut-Team (v. l. n. r.): Carlo Rüger, Oliver Georgi, Viola Lehmann und Martin Schwarze (© Fraunhofer IWU)
Der Markteinstieg erfolgt für die Verfahren des Bohrens und Drehens. Das Unternehmen wird sich jedoch nicht auf einzelne Marktnischen beschränkten, sondern künftig weitere Anwendungen in unterschiedlichen Zerspanungsprozessen abdecken. Großes Marktpotenzial sieht VibroCut in der Automobil- und Zuliefererindustrie, im Maschinenbau oder in der Luft- und Raumfahrtechnik. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz fördert VibroCut im Rahmen von EXIST, einem Programm zur Unterstützung herausragender forschungsbasierter Gründungsvorhaben. Die Unternehmensgründung ist für Mitte 2023 vorgesehen.
Das Gründerteam
Das VibroCut-Gründerteam besteht aus den drei Wissenschaftlern Dipl.-Ing. Carlo Rüger (Applikationsingenieur für zerspanungstechnische Prozesse), Dipl.-Ing. Oliver Georgi (Geschäftsführung, Technischer Vertrieb) und M.Sc. Martin Schwarze (Entwicklung) sowie der Betriebswirtin M.A. Viola Lehmann (Kaufmännische Leitung, Finanzen, Verwaltung, Marketing). Die Wissenschaftler haben das Forschungsfeld der schwingungsunterstützten Zerspanung am Fraunhofer IWU seit 2015 maßgeblich vorangetrieben. Entstanden sind dabei patentierte, nachrüstbare und hochflexible Schwingsysteme, welche ihre einzigartige Leistungsfähigkeit und Robustheit auch bei Hochleistungszerspanungsprozessen unter Beweis gestellt haben: beste Voraussetzungen für einen nachhaltigen Markterfolg.
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