Alterssichtigkeit im Fokus

Medizintechnik 07. 02. 2025
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Von Sven Schumayer, Hochschule Furtwangen

Die im Alter abnehmende Fähigkeit für scharfes Sehen kann durch die Implantation eines Systems zur Messung der elektrischen Potentiale im Auge und die Nutzung dieser Signale für die Scharfstellung einer künstlichen Linse genutzt werden. Dazu wurde ein entsprechendes Elektrodensystem durch Nutzung von Verfahren der Oberflächentechnik entwickelt und erfolgreich an einem Tiermodell getestet.

Die Fähigkeit des menschlichen Auges, nahe Objekte scharf sehen zu können, wird Akko­mmodation genannt. Bei diesem Vorgang kontrahiert der Ziliarmuskel und die ­Linse kann aufgrund ihrer Eigenelastizität, und damit reversibel, in eine veränderte sphärische Form übergehen. Mit zunehmendem Alter lässt diese Fähigkeit nach – ein Zustand, der als Presbyopie oder Alterssichtigkeit bekannt ist. Ursache dafür ist die abnehmende Elastizität der Augenlinse, wodurch sie sich nicht mehr ausreichend verformen und die erforderliche Brechkraft erzeugen kann. Presbyopie tritt typischerweise ab dem 40. bis 50. Lebensjahr auf, wenn das Lesen in gewohnten Abständen zunehmend schwerfällt und die Leseentfernung immer weiter vergrößert werden muss. Obwohl dieser Zustand keine Krankheit darstellt, beeinträchtigt er den Alltag von etwa zwei Milliarden Menschen weltweit – Tendenz steigend.

Bislang wurde Presbyopie mit Lesebrillen, Kontaktlinsen oder durch den Austausch der natürlichen Linse gegen eine künstliche Intraokularlinse im Rahmen einer Kataraktoperation behandelt. Eine technische Lösung, die der natürlichen Akkommodation des jungen Auges entspricht, gibt es bis dato nicht. Hier setzt das Projekt Auch im Alter in alle Entfernungen scharf sehen an: Während sich der Ziliarmuskel bei der Akkommodation zusammenzieht, entstehen – ähnlich wie bei einem EKG – elektrische Potentiale. Im Rahmen des Projekts wird untersucht, ob diese sogenannten Biopotentiale gemessen und genutzt werden können, um eine künstliche Linse mit variabler Brechkraft anzusteuern.

In einer ersten Pilotstudie mit zwölf Probanden konnten mithilfe von selbst entwickelten Sklerallinsenelektroden (CLEs) erfolgreich die elektrischen Potenziale des Ziliarmuskels während der Akkommodation gemessen und charakterisiert werden. Die Amplituden der Signale variierten entsprechend der Akkommodationsanforderung und korrelierten mit dem dioptrischen Abstand. Die Elektroden wurden von den Probanden gut vertragen, ohne dass starke Reizungen auftraten. Darüber hinaus zeigten die Ergebnisse eine hohe Reproduzierbarkeit innerhalb und zwischen den Testpersonen.

In einem nächsten Schritt wurde untersucht, ob diese Biopotentiale auch mithilfe eines intraokularen Implantats gemessen ­werden können. Ziel war es, herauszufinden, ob sich ähnliche Signale direkt im Auge während der Fokussierung nachweisen lassen. Dafür wurde eine spezielle intraokulare Elektrode entwickelt, welche die Biopotentiale direkt am Ziliarmuskel erfasst (Abb. 1). Das Herstellungsverfahren der Elektrode umfasste Laserschneiden sowie die Kontaktierung und Beschichtung mittels Physical Vapor Deposition (PVD).

Abb. 1: Implantat und Ringelektrode in schematischer Darstellung mit der verkapselten Elektronik unter dem Augenmuskel (links); die Kabel zur Ringelektrode laufen in das Auge; die Ringelektrode ist außen beschichtet und mit Goldkabeln versehen (rechts)

 

Um die Langzeitstabilität sicherzustellen, wurden die Elektroden beschleunigten Alterungstests unterzogen und ihre Eigenschaften kontinuierlich überprüft. Zudem wurden Messungen mit elektrischer Impedanzspektroskopie durchgeführt, um die Stabilität der Messeigenschaften über längere Zeiträume zu bewerten, bevor die Elektroden in vivo untersucht wurden. Die durchgeführten Experimente zeigen vielversprechende Ergebnisse in Bezug auf die chirurgische Handhabung und Langzeitstabilität. Die in vivo-Messungen zeigten die charakteristischen Spannungsverläufe während den Blickwechseln in unterschiedlichen Distanzen (Abb. 2). Die nach 100 Tagen entnommene Elektrode wies weder Delaminationen oder andere material­bedingte Anomalien noch ein Einwachsen des Gewebes auf. Die Elektronik für das Aufzeichnen der Potentiale wurde ebenfalls im Rahmen des Projekts entwickelt und mittels flexibler Verkapselung vor der harschen Umgebung im Körper geschützt. Die detektierten Signale wurden mittels Bluetooth an einen Computer gesendet.

Abb. 2: Akkommodationsbedingte Biopotentiale gemessen mit einer Kontaktlinsenelektrode: Detektierter Spannungsverlauf zwischen den Blickwechsel in die Ferne und Nähe (lila hinterlegt) unter verschiedenen Nahentfernungen von 0,5 m bis 0,25 m

 

In Zukunft sollen die gemessenen Biopotentiale mithilfe von Supervised Machine Learning als Steuerparameter genutzt werden, um eine künstliche Linse mit variabler Brechkraft zu kontrollieren. Eine Pilotstudie mit zwölf presbyopen Probanden ist bereits geplant. Hierbei sollen die Probanden eine Brille mit variabler Brechkraft aufgesetzt und eine Kontaktlinsenelektrode eingesetzt bekommen. Mit den hieraus gewonnenen Erkenntnissen soll dann eine variable und implantierbare Linse entwickelt werden, wodurch es möglich wäre, die gestörte Rückkopplungsschleife des akkommodativen Systems bei alterssichtigen Menschen wiederherzustellen.

Förderung

Das interdisziplinäre Projekt Auch im Alter in alle Entfernungen scharf sehen wird von der Carl-Zeiss-Stiftung im Rahmen des Programms Intelligente Lösungen für eine alternde Gesellschaft und der Förderlinie Break­throughs at Universities 2020 sowie von der Universität Tübingen finanziert. Zu den Projektpartnern gehören das Institut für Mikrosystemtechnik (iMST) der Hochschule Furtwangen, das Institut für Mikroelektronik der Universität Ulm, die Universitäts-Augenklinik Tübingen sowie das Institut für Augenheilkunde der Universität Tübingen. Die Projektleitung liegt bei Dr. Torsten Straßer, Leiter der Forschungsgruppe Applied Vision Research am Institut für Augenheilkunde.

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