Aktive implantierbare Knochendistraktoren – eine Herausforderung für Aktorik und Verkapselung

Medizintechnik 03. 02. 2019

Von Florian Höschen, Andreas Dietz, Ulrich Mescheder und Volker Bucher, Hochschule Furtwangen,
Fakultät Mechanical and Medical Engineering – Teil 4

Im Rahmen einer Studienarbeit an der Hochschule Furtwangen wird ein umfangreicher Überblick zu dem Thema Aktive implantierbare Distraktoren gegeben. Ziel ist es dabei, Grundlagen für den Bau eines voll implantierbaren Kieferdistraktor zu betreiben. Im letzten Teil des Beitrags werden die Implantate unter Einsatz von Formgedächtnislegierungen und magnetostriktiven Aktoren näher betrachtet. Schließlich werden die Eigenschaften der unterschiedlichen Motorentypen miteinander verglichen. Neben den technischen Details spielen für die Entwicklung von Knochendistraktoren die gesetzlichen Vorgaben für medizintechnische Produkte eine wichtige Rolle. Diese legen die Grenzen für den Einsatz neuer Stoffe und Geräte fest.

Fortsetzung aus WOMag 12/2018

7.4 Formgedächtnislegierung

Formgedächtnislegierungen haben die Besonderheit, dass sie sich an vordefinierte Formen erinnern. Nach einer mechanischen ­Veränderung nehmen Teile durch eine Änderung der Temperatur oder durch Anlegen ­eines Magnetfeldes wieder ihren Ausgangs­zustand an.

Grundlage des thermischen Formgedächtniseffektes ist eine reversible Umwandlung zwischen der martensitischen und der austenitischen Phase einer Formgedächtnis­legierung. Hierbei nimmt der Werkstoff in Abhängigkeit von seiner Temperatur oder von einer äußeren mechanischen Spannung zwei unterschiedliche Kristallstrukturen ein. Die dabei auftretenden Dehnungen übertreffen die elastische Dehnbarkeit metallener Strukturwerkstoffe bei Weitem [36]. Vereinfacht ausgedrückt, werden bei diesem Vorgang ganze Atomgruppen so verschoben, dass jedes einzelne Atom sein unmittel­bares Nachbaratom behält. Makroskopisch ­gesehen kann das Werkstück (Abb. 59) seinen Ausgangszustand wieder annehmen, ohne Schäden im Material zu hinterlassen [36]. Dieses Verfahren wird in Einweg- und Zweigwegeffekte unterschieden.

Abb. 59: Beispiele für Werkstücke mit Formgedächtnislegierungen [36]

 

Mit dem Einwegeffekt ist gemeint, dass sich die Legierung nur an eine Ausgangsform erinnert. Diese wird nach einer mechanischen Veränderung durch Erwärmung wieder erreicht. Beim Zweiwegeffekt kann sich das Material dagegen an zwei Zustände erinnern. Das heißt, sowohl beim Erwärmen als auch beim Abkühlen können vorher festgelegte Formen angenommen werden [36]. Dies hat den Vorteil, dass nach einer Distraktion mit einer Feder diese wieder zusammengezogen und erneut verwendet werden kann.

Dieser Effekt tritt bei Kupfer-, Eisen- und Nickeltitanlegierungen auf. Die drei vornehmlich verwendeten Legierungen sind Nickeltitanlegierungen (NiTi), Kupfer-Zink-Aluminiumlegierungen (CuZnAl) und Kupfer-
Aluminium-Nickellegierungen (CuAlNi). In Tabelle 2 sind die Eigenschaften dieser Legierungen aufgelistet.

 

Wie aus Tabelle 2 ersichtlich ist, liegt die Umwandlungstemperatur der Legierungen in einem für Implantationen nutzbaren Bereich (min. -200 °C, max. 170 °C). Die Temperaturspanne liegt dabei beispielweise bei CuZnAl bei 15 K. Eine Nickeltitanlegierung des Unternehmens G. Rau erfährt eine Umwandlung zwischen -100 °C und +100 °C. Die Temperaturhysterese liegt bei 30 K. Diese Legierung (Abb. 60) ist für die Implantation am besten geeignet, da sie eine sehr gute biologische Kompatibilität aufweist. Außerdem besitzt sie eine sehr gute Korrosionsbeständigkeit.

Abb. 60: Produktdatenblatt G. RAU [44]

 

Um dieses Verfahren in einem Linearmotor, der die gewünschte Kraft ausüben kann, zu nutzen, müssen mehrere Drähte oder Federn parallel eingesetzt werden. Um beispielsweise eine Kraft von 25 N aufzubringen, benötigt man vier Federn der Position Nr. 33004-20. Diese haben einen Drahtdurchmesser von 1,2 mm und gewährleisten eine Auslenkung von 7 mm. Daraus resultiert, dass bei einer komplett nebeneinander gelegten Anordnung der gesamte Durchmesser mit 4,8 mm sehr gering ist.

Die Drähte aus Formgedächtnislegierungen des Unternehmens Ingpuls (Abb. 61) können bei einem Drahtdurchmesser von 0,2 mm eine Hubkraft von 12 N bis 20 N aufbringen. Bei einer Drahtlänge von 20 mm gewährleisten diese einen Hubweg zwischen 1 mm und 1,6 mm.

Abb. 61: Kenndaten der Ingpuls-Formgedächtnislegierungen [45]

 

Abb. 62: Erwärmungsmöglichkeiten einer Ingpuls-Formgedächtnislegierung [45]

 

Für die Erwärmung der Drähte stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung (Abb. 62). Dies sind die Widerstandserwärmung, die induktive Erwärmung, die Erwärmung durch einen Heizdraht und die adaptive Erwärmung.

Eine Widerstandserwärmung erfolgt, wenn die Drähte direkt an einen elektrischen Strom angeschlossen werden. Durch den Ohmschen Widerstand des Materials erwärmt sich dieses. Bei der induktiven Erwärmung werden die Formgedächtnisdrähte mit einer ­Spule umwickelt. Durch Anlegen eines Wechselstroms wird ein Magnetfeld erzeugt. Dieses wird in den Formgedächtnisdraht übertragen und erzeugt dabei Wärme. Die dritte Möglichkeit ist ein Heizdraht, der um den Aktor gewickelt wird. Die letzte ­aufgeführte Variante der Erwärmung ist die adaptive Temperaturführung durch ein Umgebungsmedium [45].

Für einen implantierten Aktor wären alle vier thermischen Aktivierungen denkbar. Die sinnvollste ist vermutlich die der ­induktiven Erwärmung, da dies von außen geschehen kann und bei dem Implantat eine kleinere Bauweise begünstigt.

7.5 Magnetostriktive Aktoren

Die Funktion eines magnetostriktiven Aktors ist durch die Wechselwirkung von magnetischen und elektrischen Feldern zu erklären. Hierfür wird ein ferromagnetischer Kristall magnetisiert, wobei sich seine Form umso mehr ändert je größer die wirkende magnetische Feldstärke ist. Dabei ändert sich die äußere Form des Körpers, während sein Volumen nahezu konstant bleibt [36]. Um einen linearen Aktor zu betreiben, muss also eine magnetische Feldstärke induziert werden. Dies ist zum Beispiel durch eine stromdurchflossene Spule, die um den magnetostriktiven Körper gewickelt ist, leicht zu realisieren und kontrolliert durchzuführen.Dieser Vorgang ist, anders als beim piezoelektrischen Effekt, nicht direkt umgekehrt messbar. Dies macht das Verfahren als Messsensor nur bedingt geeignet.

Das interne Osteodistraktionsgerät der Firma Synoste Oy, Helsinki [22], funktioniert mit einem magnetostriktiven Festkörper, der in Abbildung 63 mit Nr. 1 bezeichnet ist. Seine Funktion wurde in Abschnitt 6.2 erläutert.

Abb. 63: Struktogramm Medizinprodukte und Materialien [46]

 

7.6 Zusammenfassung der Motoren

Die aufgeführten Motoren und ihre Eigenschaften sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Dabei wird immer der am besten geeignete Motor als Beispiel aufgeführt.

 

8 Gesetzliche Vorgaben zur Materialauswahl

Medizinprodukte werden in der Norm DIN ISO 10993-1 definiert. Ein Medizinprodukt umfasst der Norm zufolge alle einzeln oder miteinander verbunden verwendeten Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Stoffe oder andere Gegenstände einschließlich der für ein einwandfreies Funktionieren des Medizinprodukts eingesetzten Software, die vom Hersteller zur Anwendung für Menschen für folgende Zwecke bestimmt sind: Untersuchung, Ersatz oder Veränderung des anatomischen Aufbaus oder eines physiologischen Vorgangs, und deren ­bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht wird, deren Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann [46].

Da dies auf implantierte Distraktoren zutrifft, müssen bei der Auswahl der Materialien die Kriterien, die in der Norm DIN ISO 10993-1 aufgeführt sind, eingehalten werden.

Der erste Schritt bei der Auswahl des Materials ist die Aufstellung eines Risikomanagementprozesses anhand des Struktogrammes gemäß Abbildung 63.

Das zweite Auswahlverfahren beschreibt, welchen Körperkontakt das Medizinprodukt hat. Implantierbare Produkte sind nach deren Kontakt mit folgenden Applikationsorten einzuteilen:

a) Gewebe/Knochen

  • Produkte, die hauptsächlich mit Knochen in Kontakt kommen; (…)
  • Produkte, die hauptsächlich mit Gewebe und Gewebeflüssigkeiten in Kontakt kommen; (…)

b) Blut:

  • Produkte, die hauptsächlich mit Blut in Kontakt kommen. [46]

Bei Distraktoren handelt es sich demzufolge um Implantationen der Klasse a). Dies ist dadurch begründet, dass sie hauptsächlich mit Gewebe und Knochen verbunden sind.

Die letzte aufgeführte Einteilung ist nach Dauer des Kontakts mit dem Körper untergliedert:

Der kurzzeitige Kontakt (A) beschreibt eine Dauer von nicht mehr als 24 Stunden. Der längere Kontakt (B) ist definiert durch einen Zeitraum von wahrscheinlich mehr als 24 Stunden, aber weniger als 30 Tagen. Der Dauerkontakt (C) ist als Langzeitanwendung beschrieben. Er umfasst die Produkte, die länger als 30 Tage implantiert werden.

Da die Distraktion über einen längeren Zeitraum durchgeführt wird, der mit Sicherheit länger als 30 Tage andauert, ist der Distraktor in Klasse C einzustufen [46].

Um ein langes Prüfverfahren der Materialen zu vermeiden, ist es angebracht, Materialen zu verwenden, die bereits in Medizinprodukten der gleichen Implantationsklassen eingesetzt werden und für die bereits eine Zulassung vorliegt.

Für derartige Implantate wird häufig Titan genutzt. Dies ist auch der Hauptbestandteil in vielen oben aufgeführten Forschungsprojekten und bereits verwendeten Distraktoren. Der Gebrauch des metallischen Werkstoffs Titan in der Medizin ist in DIN ISO 5832-2 als unlegiertes Titan aufgeführt. Dieses Material ist aber in vielen unterschiedlichen Legierungsstufen erhältlich; so beispielsweise als Titan-Aluminium-Vanadium-Legierung (DIN ISO 5832-3) oder es ist, wie in den Formgedächtnislegierungen benötigt, als ­­Nickel-Titan-Legierung (DIN ISO 5832-11) zugelassen. Ebenso werden Distraktoren aus nichtrostendem (austenitischem) Stahl in der Norm DIN ISO 5832-1 aufgeführt.

Ein weiteres wichtiges Material ist Polyethylen. Mit diesem Kunststoff wird in verschiedenen aufgeführten Distraktoren die Elek­tronik ummantelt, um einen Körperschluss zu verhindern. Die Verwendung von Polyethylen wird in den Normen DIN ISO 5834-1 ­Chirurgische Implantate –Ultrahochmolekulares Polyethylen – Teil 1: Formmassen [47] und DIN ISO 5834-2 Chirurgische Implantate – Ultrahochmolekulares Polyethylen – Teil 2: Halbzeuge [48] geregelt.

Auch die Verwendung von biokompatibler Keramik ist bereits in der DIN EN ISO 13356 Chirurgische Implantate – Keramische Werkstoffe aus Yttrium stabilisiertem tetragonalem Zirconiumoxid [49] geregelt.

Diese Materialien können demnach für den Bau eines voll implantierbaren, aktiven Distraktors genutzt werden. Auch die Ummantelung des Aktors sollte aus einem der auf­geführten Materialien bestehen.

9 Fazit

Durch die vorliegende Arbeit ist ersichtlich geworden, dass ein voll implantierbarer Kieferdistraktor aus mehreren Komponenten besteht. Außerdem wird deutlich, dass ein solches Medizinprodukt eine gewisse Intelligenz besitzen muss. Es ist sinnvoll, dass der Distraktor die Längenverschiebung und das Knochenwachstum bemessen und darüber eine genaue Auskunft geben kann. Diese Funktion ist momentan beispielsweise bei dem Marknagel Fitbone des Unternehmens Wittenstein intens gegeben.

Die Einzelteile des intelligenten Distraktors sind zum einen der Distraktor selbst und zum anderen seine Antriebseinheit. Hinzu kommt, falls vorhanden, eine Messvorrichtung, die Daten zur ausgeführten Distraktion und zum Knochenwachstum geben kann. Wichtig hierbei ist, dass diese komplett implantierbar sein müssen. Das heißt, das Produkt darf keine ausleitenden Drähte, Kabel oder Schläuche besitzen. Denn eine Hautläsion stellt immer eine Infektionsgefahr dar.

Um einen aktiven voll implantierbaren Kieferdistraktor herstellen zu können, müssen die Größe der Bauteile, die Leistung des Aktors sowie die Stromversorgung, aber auch die Wahl der Materialien im Auge behalten ­werden.

Momentan ist noch kein vergleichbares Produkt für den Kieferbereich auf dem Markt. Die zum Thema voll implantierbarer Kieferdistraktor betriebene Forschung ist bislang zu keinem industriell einsetzbaren Ergebnis gelangt. Das heißt, dass die Forschung entweder nach missglückten Testreihen eingestellt wurde oder aus sonstigen, nicht angegebenen Gründen nicht weiterverfolgt wurde. Ein bereits bestehendes Patent nimmt für sich in Anspruch, dass es in jeder Größe gebaut werden kann und daher auch für den Kiefer einsetzbar sei. Aber auch dieses Patent wurde bisher nicht industriell genutzt.

Es gibt jedoch bereits vorhandene, in der Praxis genutzte Produkte im Bereich der Röhrenknochen. Das Wissen über diese Produkte kann genauso genutzt werden wie die vorliegende Forschung zum Bereich der Kieferdistraktoren.

Bei der Suche nach einem geeigneten Motor für einen aktiven, voll implantierbaren Kieferdistraktor fällt auf, dass die meisten der aufgeführten Motoren zu groß ausfallen. Außer­dem ist bei den meisten aufgeführten Aktoren eine externe Stromversorgung durch Kabelverbindungen nötig. Vor allem die Elektromotoren scheinen zwar teilweise von der Baugröße und dem Gewicht her geeignet zu sein, sie zeigen jedoch keine Alternative der Energieversorgung ohne Kabel auf. ­Linearmotoren mit Piezoelementen benötigen eine vergleichsweise hohe Spannung, um betrieben zu werden. Das erschwert den Einsatz im Körper.

Vor allem die Aktoren aus Formgedächtnislegierung eignen sich den verfügbaren Daten zufolge in Größe und Beschaffenheit besonders. In der Arbeit wird aufgezeigt, dass nur wenige Formgedächtnisdrähte mit einem geringen Durchmesser benötigt werden, um eine hohe Leistung erlangen zu können. Das gewährleistet eine schlanke Bauweise. Da die Formgedächtnislegierungen aus bereits für den Medizinbereich zugelassenen Materialien bestehen (Nickel-Titan-Legierung) weisen sie einen weiteren Vorteil auf.

Abschließend ist festzustellen, dass es momentan noch keinen intelligenten Kieferdistraktor gibt. Weitere Forschungsarbeiten sowie praktische Versuche zum Bau und der Implantation sind daher sinnvoll. Außerdem muss noch weitere Forschung zum Thema der Messvorrichtung geleistet werden.

Literatur

[22] Juha Haaja, Antti Rivanen, Markus Turunen, Harri Hallila: US8632544.pdf, US 8,632,544, B2 PCT/FI2009/050209, Jan 9, 2011

[36] H. Janocha: Unkonventionelle Aktoren; München, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2013

[45] https://ingpuls.de/; accessed on: Nov. 03, 2017

[46] DIN EN ISO 10993-1; Biologische Beurteilung von Medizinprodukten

[47] DIN ISO 5834-1; Chirurgische Implantate - Ultra­hochmolekulares Polyethylen - Teil 1: Formmassen

[48] DIN ISO 5834-2; Chirurgische Implantate - Ultra­hochmolekulares Polyethylen - Teil 2: Halbzeuge

[49] DIN EN ISO 13356; Chirurgische Implantate - Keramische Werkstoffe aus yttriumstabilisiertem tetragonalem Zirkoniumoxid (Y-TZP)

-Ende-

Video(s) zum Thema

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